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Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Titel: Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
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Kellers. Während noch eine Abzweigung zuvor nur wenige kleine Brocken weißen Putzes aus der Decke von der Katastrophe gezeugt hatten, sahen wir uns auf einmal einem fast hüfthohen Schuttberg gegenüber, der noch kurz zuvor zu einer an den anderen Teil des Labyrinths grenzenden Wand gehört hatte. Fingerdicke Risse zogen sich von der Einsturzstelle aus durch die weiß verputzte Decke, zerrissene Kabelstränge ragten wie dämonische, dürre Finger, die sich nach uns ausstreckten, aus dem Geröllberg, und verbogene, scharfe Metallteile lugten überall zwischen Staub und Beton hervor. Ich glaubte, ein bedrohliches Knirschen zu vernehmen, das von irgendwo aus, für meinen Geschmack aus viel zu geringer Entfernung, zu uns hindurchdrang, und griff nach Judiths Hand, um sie mit mir einen Schritt zurück in die Richtung zu ziehen, aus der wir gekommen waren.
    »Bingo!« Carl jubelte, scheuchte uns mit der Waffe zurück in Richtung des Einsturzes und leuchtete kurz in den Bereich hinter der zerstörten Wand. Ich konnte sein Gesicht am grellen, meine Augen blendenden Strahl der Lampe vorbei nicht erkennen, entnahm aber dem Klang seiner Stimme und seiner Gestik, dass er plötzlich sehr aufgeregt war. »Hab ich's mir doch gedacht ... genau so hab ich es mir erhofft!«, rief er begeistert und angelte mit zwei Fingern der Hand, in der er auch die Lampe hielt, nach etwas, das er im hinteren Hosenbund des albernen Trainingsanzuges mit sich herumgeschleppt hatte. Schließlich warf er die lederne Mappe aus dem Rektorzimmer auf eine relativ schuttfreie Stelle auf dem Boden.
    Er ließ sich in die Hocke sinken und seine Versuche, gleichzeitig mit der Lampe nach den Plänen zu leuchten, sie vor sich auszubreiten und zu betrachten und außerdem auch noch die Frauen und mich im Auge zu behalten und die Waffe auf uns zu richten, hatten etwas Tragikomisches, über das ich vielleicht geschmunzelt hätte, wenn nicht vor lauter schlechter Luft und Angst meine Lippen an meinen Zähnen und meine Zunge unter dem Gaumen festgeklebt hätten. Schließlich bedeutete er Ellen mit einer unwilligen Geste, den Scheinwerfer für ihn zu halten und die Pläne zu beleuchten, von denen allein der Teufel wusste, wie er sie nach dem Einsturz gerettet und wo er sie aufbewahrt und schließlich unbemerkt wieder an sich genommen hatte. Begleitet von hektischen Bewegungen studierte er abwechselnd die Baupläne, die eingestürzte Mauer und uns.
    »Jetzt«, zischte Judith mir leise ins Ohr. »Wir können ihn überrumpeln!«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht riskieren, dass Carl in neuerliche Panik verfiel und vielleicht letztlich wild um sich schoss. Der Rhythmus der Blicke, mit denen er uns bedachte, war einfach zu unregelmäßig, um sich einen günstigen Sekundenbruchteil auszurechnen, in dem ich mich hätte auf ihn stürzen können. Judith schenkte mir ein Stirnrunzeln, das eine Mischung aus Ärger und Enttäuschung ausdrückte – wahrscheinlich hielt sie mich für einen Feigling. Vielleicht war ich ja einer.
    »Ruhe!«, herrschte Carl Judith an. »Was gibt es da zu tuscheln!« Er tippte mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle des Planes, den er vor sich ausgebreitet hatte, unweit des kreisrunden Raumes, der unmittelbar unter dem Turm liegen musste. »Hab ich mir doch gleich gedacht, dass wir von hier aus viel besser dorthin gelangen«, behauptete er und reckte stolz die Brust vor wie ein Truthahn bei der Balz.
    Dann hätten wir uns vielleicht ein paar Durchbrüche ersparen können, dachte ich verächtlich bei mir, sprach es aber nicht aus. Carl nickte zufrieden und ließ den Blick durch das riesige Loch, das der Einsturz in die Wand zu unserer Linken gerissen hatte, schweifen.
    »Mein Großvater hatte Recht. Ich habe nie daran gezweifelt, und heute werde ich es beweisen«, behauptete der Wirt und seufzte tief. »Ja, ja ... Der alte Knacker. Der war ein guter Kerl, das kann ich euch sagen. Hat nicht gekämpft im Krieg, war ein Mann des Friedens, das liegt bei uns einfach in der Pisse, wisst ihr. Der ganze Militärkram, das ist nichts für uns. Bin wahrscheinlich der erste Mann in meiner Ahnenreihe, der 'ne richtige Knarre in der Hand hält ...« Er lachte hässlich, dann schüttelte er den Kopf.
    »Fotos hat der Alte gemacht für die feinen Herren hier auf der Burg«, erzählte er weiter. »Fotos von Kindern, von hunderten von Kindern. Der Alte hat beobachtet, wie die Lastwagen kamen, als der Krieg zu Ende ging. Sie haben den Schatz hier versteckt.
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