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Nebra

Nebra

Titel: Nebra
Autoren: Thomas Thiemeyer
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durch blühenden Wohlstand gekennzeichnet war. Hatschepsut war die einzige Frau, die jemals die Herrschaft als Pharao innehatte.« »Bemerkenswert, nicht wahr?«, sagte John. »Kurz nach Antritt ihrer Regentschaft ergriff sie die traditionellen Herrschaftsinsignien, darunter den sogenannten Zeremonialbart. Wahrscheinlich auf Druck ihrer Untergebenen, die die Tatsache, dass sie von einer Frau regiert wurden, als untragbar erachteten. In späteren Bildnissen ließ sie sich deshalb nur noch als Mann darstellen.« Er deutete auf die umliegenden Säulenarkaden. »Das hier ist übrigens das bedeutendste Bauwerk, das in ihrer zweiundzwanzigjährigen Herrschaftszeit entstanden ist. Ihr eigener Totentempel.«
    Hannah schlang die Arme um sich. Sie schien sich unwohl zu fühlen bei der Vorstellung, wie viele Jahre die Ägypter damals mit dem Gedanken an den eigenen Tod verbracht hatten. Andererseits war der Tempel zu einer Zeit entstanden, als die Menschen den Tod als etwas Willkommenes erachteten, als etwas, vor dem man keine Angst zu haben brauchte. Doch er konnte sie verstehen. Irgendwie hatten Totenkulte immer etwas Beängstigendes.
    »Was muss ich noch über sie wissen?«, fragte sie. »Hatschepsut führte eine für ihre Zeit ungewöhnliche Expedition durch«, sagte John. »Eine Expedition über Land. Dass sie sich auf diesem Weg in eine unbekannte Gegend vorwagten, war außergewöhnlich. Die Ägypter waren ein Volk von Seefahrern und Schiffsbauern. Trotzdem hat die Pharaonin eine solche Expedition ins Leben gerufen. Ein gewaltiges Unterfangen in jener Zeit.« »Und wohin führte die Reise?«
    »Ins Land Punt, vermutlich das heutige Somalia. Von dort brachte die Expedition neben Gold und Edelsteinen auch Weihrauch, Ebenholz sowie eine Fülle exotischer Pflanzen mit. Die Puntreise gilt als die erste botanische Expedition überhaupt.« Er blieb stehen. »Sieh mal dort hinüber.« Er deutete in Richtung Südwesten, auf eine Halle, die ein Stockwerk unter der ihren lag. »Dort drüben findest du Fresken, die aus-schließlich von dieser Expedition handeln. Sehr interessant übrigens die Darstellung der Herrscherin von Punt. Sie ist so überdimensioniert und fett dargestellt, dass die Gelehrten heute noch darüber streiten, ob dies eine natürliche Darstellung sein soll.«
    »Und nach zweiundzwanzig Jahren Herrschaft starb sie? Einfach so?«
    John warf Hannah einen vielsagenden Blick zu. »Natürlich nicht einfach so. Wir reden hier von den Ägyptern.« Er zuckte mit den Schultern. »Nein, vermutlich wurde sie umgebracht. Sie war zu mächtig geworden, und obendrein war sie ja eine Frau. Das passte vielen Leuten nicht in den Kram. Noch Jahrhunderte später wurden viele ihrer Abbildungen ausradiert. Gelöscht, zerstört, vernichtet, wie du willst.« »Charmant.«
    Sie waren jetzt weit genug in den hinteren Teil des Allerheiligsten vorgedrungen. An diesen Ort fiel kaum noch Tageslicht. John drehte den Kopf, dann nickte er zufrieden. »Hier sind wir richtig«, sagte er. »Es ist gleich hier drüben, komm.«
    Er kramte in seiner Umhängetasche und holte eine Taschenlampe hervor, durch deren abgewetzte Lackschicht das blanke Metall schimmerte. Der Lichtstrahl schnitt wie ein Skalpell durch die Dämmerung. John schritt die linke der hinteren Be-grenzungsmauern entlang, während er seine Hand über den Sandstein gleiten ließ. Seine Finger tasteten über Wölbungen und Einbuchtungen, die in jahrelanger Arbeit kunstvoll aus dem Stein geschlagen worden waren. Hatschepsut galt als Gründerin der rundplastischen Abbildung, einer Reliefform, die besonders weich und naturalistisch anmutete. Die Szenen zwischen Menschen und Göttern wirkten wie aus einem Bil-derbuch.
    »Hier.« Er blieb stehen und deutete auf eine Darstellung, die den Wechsel der Jahreszeiten darstellte. Zu sehen waren der Nil bei Hoch- und bei Niedrigwasser, Aussaat und Ernte, die Wanderung von Sonne und Mond sowie der Wandel der Ge-stirne. Dazwischen war die Abbildung eines Schiffes zu sehen: einer Sonnenbarke.
    Hannahs Augen glänzten, als sie das Relief bestaunte. Die Darstellung zeugte von besonderem Können. Selbst die feine Holzmaserung war zu erkennen.
    Hannah holte ihre Fotografie hervor und hielt sie neben den Stein.
    »Sie ist kleiner, als ich sie mir vorgestellt habe.« »Trotzdem ist sie eines der wichtigsten Symbole des alten Ägyptens«, erläuterte John. »Auf ihr tritt der Sonnengott seine tägliche Fahrt über den Himmel an. Er beginnt seine Fahrt als Chepre,
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