Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele
Autoren: Britta Strauß
Vom Netzwerk:
Sie war allein. Saß tropfend auf einem finsteren Waldweg, während die Dunkelheit lebendig zu werden schien. Ihre Angst gewann eine lähmende Intensität. Josephine wagte kaum, zu atmen, geschweige denn, sich umzusehen. Der Gedanke, im Gebüsch glühende Augen zu entdecken, ließ sie zu Eis gefrieren. Warum hatte sie das getan? Warum war sie so dumm? Sie hätte eingekuschelt in eine Decke auf dem Sofa sitzen können. Stattdessen würde sie vielleicht sterben.
    „So schnell stirbt es sich nicht“, antwortete eine Stimme aus dem Dunkeln.
    Josephine fuhr abrupt hoch, was ihre Nervenbahnen mit einer Salve greller Impulse bestraften. Ihr wurde schwarz vor Augen. Die Welt kippte zur Seite, wie sie es bei einer Ohnmacht zu tun pflegt, doch irgendwie gelang es ihr, aufrecht sitzen zu bleiben. Jemand stand vor ihr. Aufgetaucht aus dem Nichts. Ein groß gewachsener Mann.
    Nein, erkannte Josephine mit merkwürdiger Klarheit, so groß war er nicht. Ihr Eindruck lag nur darin begründet, dass sie so klein war und am Boden hockte. Das hier war eine perfekte Gelegenheit, ihr etwas anzutun. Sie war hilflos, verwundbar und präsentierte sich jedem Subjekt mit boshaften Absichten auf einem Silbertablett.
    „Brauchst du Hilfe?“
    Der Fremde ging vor ihr in die Knie. Keinerlei Freundlichkeit lag in seiner Stimme, doch ihre dunkle Weichheit war angenehm.
    „Ja“, hörte Josephine sich sagen. Sie war völlig konfus. Seine Erscheinung war ungewöhnlich, um nicht stärkere Ausdrücke zu bemühen. Er trug eine abgewetzte Hose, deren Farbe vermutlich ins Braun tendierte sowie ein schwarzes Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen und den Blick auf ein Amulett freigaben. Es schien einer dieser typischen, indianischen Talismane zu sein. Geformt wie ein Rad mit Speichen und verziert mit schillernden, schwarzen Federchen. An den Ohren des Mannes blitzten silberne Creolen, an den Zeigefingern seiner rechten und linken Hand jeweils ein Onyxring. Ein Indianer. Zweifellos. Das pechschwarze Haar fiel ihm offen über die Schultern und bis auf den Rücken hinab, während seine Augen so dunkel waren, dass man sich, wenn man nicht achtgab, darin verlor wie in bodenlosen Abgründen. Josephine schwindelte, als sie hineinsah. Dieser Mann strahlte akute Gefahr aus. In seinem Blick lag etwas, das die Sanftheit seiner Stimme Lügen strafte. Es war der Hauch von etwas Unbeherrschtem, der ihr das Gefühl vermittelte, als glitten eiskalte Finger über ihre Wirbelsäule. War es eine Warnung ihres Unterbewusstseins? Was, wenn die Wölfe nicht die einzigen Raubtiere in diesem Wald waren?
    „Bleib weg von mir“, platzte es aus ihr hinaus. „Rühr mich nicht an.“
    Seine Hände, die sich soeben nach ihr ausgestreckt hatten, erstarrten mitten in der Bewegung.
    „Ich will nur nach deinem Fuß sehen.“
    „Unsinn.“
    „Unsinn?“
    Der Blick seiner schwarzen Augen durchbohrte sie, kroch durch jede Faser ihres Körpers, lähmte sie. Etwas stimmte mit diesem Mann nicht. Und sie war mit ihm allein. Hier draußen, wo niemand sie hören würde.
    „Halt still“, raunte er. „Ich habe nicht vor, dich umzubringen und zu verscharren.“
    „Das dachte ich auch nicht“, log Josephine.
    Er hob eine Augenbraue. „Du riechst nach Angst. Du zitterst. Und du siehst mich an, als würde ich dir die Leber aus dem Leib schneiden und sie essen wollen.“
    Josephine wimmerte, als er ihren Schuh auszog und die Socke folgen ließ. „Was suchst du hier?“ presste sie hervor. „Weißt du nicht, dass es verboten ist, auf fremden Grundstücken nachts herumzuschleichen?“
    „Wenn du meinst, dass das Land dir gehört, zieh Zäune.“
    „Das haben wir.“
    „Wohl nicht überall. Abgesehen davon waren wir zuerst hier.“
    Sie seufzte. „Die alte Leier.“
    „Soll ich dich hier liegen lassen und den Wolf bitten, sich um dich zu kümmern? Ich kenne ihn. Er ist alt und zahnlos. Für leichte Beute wäre er mir dankbar.“
    Ein Timbre lag in der Stimme des Mannes, das Josephine dazu brachte, stumm zu bleiben. Im Kontrast zu dieser Aggression umfingen seine Finger behutsam ihren gebrochenen Fuß. Es fühlte sich warm und angenehm an. Als er auch noch begann, vorsichtig zu massieren, schienen alle Muskeln in ihr zu erschlaffen. Um ein Haar wäre sie mit verdrehten Augen nach hinten gekippt, aller Angst zum Trotz.
    „Fühlt es sich besser an?“, fragte er irgendwann.
    Josephine starrte auf den Talisman, oder vielmehr auf die dunkle, schimmernde Haut darunter. Der Ausschnitt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher