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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele
Autoren: Britta Strauß
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Szenerie mit seidigem Licht übergoss, intensivierte das Gefühl, in einer anderen Wirklichkeit gefangen zu sein. Als hätte ihre Wahrnehmung einen Schritt zur Seite getan, um nun neben der Realität herzulaufen. Während Josephine dem Mann schweigend folgte, suchte ihr Verstand nach Erklärungen. Womöglich war es doch kein Bruch. Es konnte keiner sein, denn ihre Knochen waren heil. Mit Schamanismus kannte sie sich nicht einmal ansatzweise aus, aber sie wusste, dass es bestimmte Punkte am Körper gab, auf die man drücken konnte, wollte man Schmerzen lindern. Vermutlich hatte sie damit die Lösung des Wunders gefunden. Er hatte irgendeine Art von bemerkenswerter, aber gänzlich unmagischer Akupressur an ihr vorgenommen.
    Irgendwann, als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Farm erblickte, senkte sich ein Schatten auf Josephine herab. Der Anblick des aus Zedernholz gebauten Farmhauses, dessen schwarze Dachschindeln im Mondlicht glänzten, der Anblick der Wiesen, der Kuhweiden und der Stallgebäude – all das strahlte eine schmerzliche Idylle aus. Es war die Kulisse für einen Traum, der grandios gescheitert war. Ein Kloß wuchs in ihrer Kehle. Man sah es der Farm nicht an, dass sie erst vor zehn Jahren erbaut worden war. Da sie größtenteils aus Holz bestand und Daniel eine altmodische Bauweise bevorzugt hatte, hätte sie ebenso gut ein Relikt aus alten Zeiten sein können. Nahtlos fügte sie sich in die Landschaft ein, dass es den Anschein hatte, als sei sie schon immer ein Teil von ihr gewesen. Als sie über die vor Nässe schmatzende Wiese liefen, umgeben vom Gezirpe der Zikaden, sah sie Max bereits mit hängendem Kopf vor dem Stalleingang stehen. Bisher hatte ihn niemand bemerkt, was nicht verwunderlich war. Da zurzeit die Ernte eingefahren wurde, fielen sämtliche Angestellten am Abend todmüde in ihre Betten. Jacob, der wegen seines Alters nicht mehr bei dieser schweren Arbeit half, teilte seinen Tag ein wie ein Huhn. Er ging schlafen, wenn die Dunkelheit hereinbrach, und war munter, sobald sich auch nur die Andeutung einer Dämmerung zeigte.
    Josephine hoffte inständig, dass niemand Zeuge wurde, wie sie Seite an Seite mit einem wildfremden Mann über das Farmgelände spazierte. Andernfalls würde sie morgen von zahllosen Fragen gelöchert werden. Insbesondere von Jacob, der zweifellos dafür sorgen würde, dass sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitete.
    „Das Pferd ist völlig verschwitzt.“ Der Indianer hielt mit energischen Schritten auf Max zu. „Zieh dir was Warmes an, ich versorge ihn.“
    Zu perplex, um auf seine Worte zu reagieren, lief Josephine ihm hinterher, keinen Gedanken daran verschwendend, dass sie auf diese Weise wirkte wie ein treudoofer Pudel. Tropfnass, frierend und überfordert mit der Situation sah sie zu, wie der Mann mit selbstverständlicher Gelassenheit die Schiebetür öffnete, in den Stall spazierte und sich umsah. Sein Blick huschte hin und her, als analysiere er ungeachtet der herrschenden Dunkelheit binnen Sekunden seine gesamte Umgebung, inklusive Abertausender winziger Details, die sich einem gewöhnlichen Blick niemals offenbart hätten. Als seine Sondierung beendet war, wandte er sich um und hielt zielstrebig auf die Gerätekammer zu. Nur Sekunden später kehrte er mit einer Abschwitzdecke zurück, die er weiß Gott wie in dem stockfinsteren Kabuff gefunden hatte.
    „Hat dich mein Anblick in eine Salzsäule verwandelt?“ Der Indianer legte die Decke ins Gras und begann, Max abzusatteln. „Jetzt geh schon. Ich werde nichts klauen, falls du dir darum Sorgen machst.“
    Sein Blick traf sie ohne Vorwarnung. Eine unnachgiebige Forderung lag in seiner Dunkelheit, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Für Momente war es, als berührten kalte Finger ihr Gehirn, betasteten und befühlten es. Ungläubig, doch ohne die Möglichkeit, etwas gegen den Willen ihres Körpers auszurichten, torkelte Josephine zum Farmhaus, stolperte die Verandatreppe hoch und kehrte in die heimeligen vier Wände ein, von denen sie noch vor Kurzem geglaubt hatte, sie würde sie nie wiedersehen. Im Nachhinein war ihr unbegreiflich, wie sie hierhergekommen war und warum sie diesen Wildfremden so bereitwillig allein gelassen hatte. Sie kannte den Mann nicht, sie konnte ihn nicht einschätzen. War sie von allen guten Geistern verlassen? Getrieben von heftiger Unruhe, erledigte sie das Umziehen im Akkord. Hastig tauschte sie das Hemd gegen ein kakifarbenes Kapuzenshirt und die
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