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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele
Autoren: Britta Strauß
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Böschung. Ihre Hände griffen nach einem Farnbusch, doch es half nichts. Sie riss ihn mit. In wilden Umdrehungen rauschte sie hinunter in den Bach, landete der Länge nach darin und fand sich plötzlich bäuchlings im gurgelnden Wasser wieder.
    Ein höllischer Schmerz loderte in ihrem Fuß auf, der ihr sofort eine Gewissheit einpflanzte: Dieser Fuß war gebrochen. Sie hatte lange genug in einem Krankenhaus gearbeitet, um den Unterschied zwischen Verstauchung und Bruch zu erkennen. Bestätigt wurde sie durch die seltsame Stellung des Knochens. Ihr Herz raste wie verrückt. Lebte sie noch? Ja, sie lebte. Benommen blinzelnd wuchtete Josephine sich in eine sitzende Position. Das Pferd stand am Rand der Böschung, ließ die Ohren hängen und sah sie an, als sei es das personifizierte schlechte Gewissen.
    Wie ferngesteuert stemmte sie sich hoch. Vor ihren Augen explodierten Sternchen. Auf allen vieren kroch Josephine die Böschung hinauf. Obwohl ihr Gehirn vom Schreck wie betäubt war, kristallisierten sich aus ihrem Gedankenchaos Klarheiten heraus. Sie würde wochenlang für die Arbeit auf der Farm ausfallen. Gut möglich, dass ihr dies den Todesstoß versetzte. Und siewürde sich nie wieder auf ein Pferd setzen.
    Die Schmerzen waren höllisch. Spätestens, als sie endlich den Weg erreicht hatte und sich zitternd gegen einen Baumstamm lehnte, erreichten sie die Grenze des Erträglichen. Eine Belastung des Beines war unmöglich. Sie musste es irgendwie schaffen, sich auf Max zu hieven, denn zu Fuß würde der Weg ewig dauern. Andererseits – nein! Sie wollte nicht wieder auf seinen Rücken. Also nahm sie die Zügel auf und arbeitete sich hüpfend vorwärts. Max, entschlossen, seinen Ausraster durch Schleimerei wiedergutzumachen, trottete neben ihr her, rieb seinen Kopf an ihrer Hüfte und schnaufte zärtlich. Josephine war ihm nicht böse. Sie war wütend auf sich. Dieser Zorn brandete mit brachialer Wucht über sie hinweg, brachte die ohnehin dünnen Mauern ihrer Beherrschung zum Einsturz und rieb sie bis auf das Fundament ab. Tränen flossen über ihre Wangen. Sie schluchzte hemmungslos, während sie das Gefühl hatte, jemand wühle mit einem rostigen Tomatenmesser in ihrem Fuß herum. Jede winzige Bewegung schmerzte, dass ihr schlecht wurde. Und so weinte sie noch mehr. Es war auf bittere Weise befreiend. Alles bahnte sich losgelöst seinen Weg nach außen, nachdem sie seit Jahren versucht hatte, die Fassung zu wahren und stark zu sein. Für Daniel, für die Farm, für sich selbst.
    Erst, als sie den Wolf heulen hörte, tauchte sie aus ihrem Jammertal auf. Abrupt blieb Josephine stehen. Natürlich gab es hier Wölfe, dessen war sie sich immer bewusst gewesen. In den vergangenen Jahren hatte ihre Zahl sogar zugenommen, zumindest gerüchteweise, denn sie hatte nie eines dieser Tiere zu Gesicht bekommen, sondern sie nur von Weitem gehört. Auch wusste Josephine, dass sie für gewöhnlich keine Gefahr darstellten. Es waren scheue Tiere, so sagte man. Menschen gingen sie aus guten Gründen aus dem Weg. Aber derlei Beschwichtigungen waren leicht aufzustellen, wenn man auf einem Sofa oder an einem Schreibtisch saß, geborgen in den schützenden vier Wänden. Stand man allerdings allein mit einem Pferd in einem finsteren Tannenwald, während sich die Nacht herabsenkte, sah die Sache anders aus.
    Für jeden Wolf, der sich entschied, nicht dem gängigen Verhaltensmuster zu folgen, war sie ein gefundenes Fressen. Josephine spürte die Gänsehaut am ganzen Körper. Sie stand hier, mit gebrochenem Fuß, tropfnass und aufgelöst in Angst, die kurz davor war, in Panik überzugehen.
    Plötzlich, als wolle er ihre Ängste schüren, heulte der Wolf erneut. Diesmal sehr viel näher. Max warf den Kopf zurück und rollte panisch mit den Augen. Pferde, die das taten, waren ein schrecklicher Anblick. Genauso hatte auch Daniels Stute ausgesehen, bevor ihr Huf seinen Kopf zertrümmert hatte.
    Nein. Sie wollte nicht daran denken. Nicht jetzt. Niemals wieder. Die Vergangenheit musste ein für alle Mal ruhen.
    Josephine ließ die Zügel fallen, als hätten sie sich in glühende Eisenstangen verwandelt, stolperte zurück und vergaß vor Schreck, ihr Bein zu schonen. Der stechende Schmerz ließ sie in die Knie gehen. Keuchend schnappte sie nach Luft, während Max mit erhobenem Schweif davongaloppierte.
    „Komm zurück“, wimmerte Josephine. „Komm zurück, du blöder Gaul.“
    Doch der Buckskin verschwand mit wehender Mähne in der Dunkelheit.
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