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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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die Nacht in Mutorej kaum geschlafen und darüber nachgedacht, wie man Natalia jetzt auftauchen lassen könnte. »Sie leben jetzt in Krasnojarsk.«
    »O Himmel! Sie haben ihre Tochter einfach aufgegeben! Wie wollen Sie das Natalia beibringen?«
    »So, wie es ist! Auf jeden Fall ist sie ein freier Mensch, denn sie gilt als tot. Keiner vermißt sie mehr, keiner erwartet sie, keiner will etwas von ihr.«
    »Dann gehört sie nur noch Ihnen, Michail …«
    »Ja.« Tassburg antwortete mit einem tiefen Aufatmen.
    »Sie sind von Gott gesegnet, Michail«, sagte Tigran dunkel. »Ein Mensch, den es nicht mehr gibt, schenkt Ihnen ein Kind …«

XIV
    Die Sensationen rissen nicht ab in Satowka!
    Es war, als ob – auf wenige Wochen zusammengeballt – alles nachgeholt werden sollte, was man in 150 Jahren, abgesehen von den Unglücksfällen im ›Leeren Haus‹, in abgeschiedener Ruhe versäumt hatte.
    Es war schon vollkommen dunkel draußen, und der Frost klirrte bei jedem Schritt, als es an die Tür der braven Witwe Anastasia Alexejewna klopfte. Da Tigran das nie tat, sondern ungestüm gegen die Tür hämmerte, war Anastasia unschlüssig, ob sie den Riegel wegschieben sollte. Als es noch ein zweites Mal klopfte, zaghafter noch als vorher, vermutete Anastasia, daß es die Nachbarin wäre, die sich etwas leihen wollte. Sie ging also zum Eingang und legte das Ohr gegen die Tür.
    »Wer ist draußen?« rief sie. »Es ist eine unchristliche Zeit für Besuche!«
    »Machen Sie bitte auf …«, antwortete eine klägliche Frauenstimme. »Bitte, machen Sie auf. Sie tun ein gutes Werk …«
    Anastasia war so verwirrt, daß sie wirklich den Riegel wegschob und die Tür aufriß. Eine völlig zugeschneite weibliche Gestalt schwankte in das warme Zimmer, taumelte zur Ofenbank und sank darauf nieder. Anastasia warf die Tür wieder zu, stieß einen hellen Laut der Verwunderung aus und betrachtete das fremde Wesen.
    »Danke«, stammelte die Frau, von der jetzt der Schnee abtaute und in Rinnsalen auf den Boden lief. »Oh, ich danke Ihnen …«
    »Wer … wer sind Sie?« fragte die verwirrte Anastasia und wünschte sich, daß Tigran hier sein möchte. Taucht da eine fremde Frau auf, aus der Taiga doch anscheinend, völlig durchfroren, am Rande des Todes offensichtlich, sicherlich halb verhungert – schleppt sich bis an meine Tür und sitzt nun hier auf meiner warmen Ofenbank, um aufzutauen. Mein Gott, was werde ich hören?
    Die Fremde schlug die Decke zurück, in die sie sich eingewickelt hatte, und streifte das Kopftuch ab. Zum Vorschein kam ein junges, blasses Mädchen, zart wie ein Vögelchen, mit großen, ängstlichen Augen, die Anastasia bettelnd anblickten.
    »Nur etwas wärmen möchte ich mich«, sagte das Mädchen. »Nur ein Stündchen ausruhen. Und wenn Sie ein Stück Brot hätten, Mütterchen, ein kleines Stück trockenes Brot … Das genügt! Ich falle Ihnen sonst nicht zur Last, ich gehe nach einer Stunde wieder …«
    »Wohin?« fragte Anastasia, deren mütterliches Herz sich regte, obwohl sie nie ein Kind gehabt hatte.
    »Ich weiß es nicht …«
    »Woher kommst du?« Anastasia fand, daß bei einem so jungen Mädchen ein Du angebrachter war als das formelle Sie. »So einfach aus dem Wald?«
    »Wie herrlich die Wärme ist …« Das Mädchen lehnte sich an den gemauerten Ofen. Es schloß die Augen, und Anastasia fand, daß das Mädchen sehr schön sei. Ein schmales, ebenmäßiges Gesicht, langes Haar, das in seinem Braun einen Schimmer Goldes trug. Die Beine des Mädchens steckten in derben Stiefeln, die Kleidung unter der Decke war geflickt und schmutzig. »Schenken Sie mir eine Stunde, Mütterchen?«
    »Aber ja! Kommt einfach aus dem Wald! Na, so etwas!« Anastasia lief zu ihrem Schrank, holte das Brot heraus und schnitt eine dicke Scheibe ab. Sie hielt sie dem Mädchen hin, das gierig danach griff. Mit beiden Händen stopfte es das Brot in den Mund und kaute mit vollen Backen.
    »Du mußt doch irgendwo herkommen!« sagte Anastasia und setzte sich neben das Mädchen. Die Wasserlache auf dem Fußboden verbreiterte sich. »Aus einem Dorf, einem Haus? Du hast doch Vater und Mutter …«
    »Sie sind tot.« Das Mädchen schluckte, sie kaute noch immer. »Alle beide tot. Erschlagen …«
    »O ihr Heiligen!« stammelte Anastasia. »Wie denn? Von wem denn?«
    »Ich weiß es nicht. Nomaden waren es, schlitzäugige, gnadenlose Menschen. Sie haben unsere Karren überfallen, Vater und Mutter erschlagen und mich weggeschleppt, wochenlang durch
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