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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln
Autoren: Haruki Murakami
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überteuerten, ekelhaften Sandwiches, die nicht mal ein halbverhungertes Pferd fressen würde? Mir hat immer die Meerbrasse am Bahnhof von Gotenba so gut geschmeckt.«
    »Wenn Sie so reden, könnte man Sie für eine alte Dame halten.«
    »Stimmt ja auch, ich bin eine alte Dame!«
    In der Bahn nach Kichijōji starrte Reiko neugierig aus dem Fenster.
    »Hat sich in den acht Jahren viel verändert?« fragte ich.
    »Ach, Herr Watanabe, Sie können sich nicht vorstellen, was ich jetzt empfinde.«
    »Nein, das kann ich nicht.«
    »Ich könnte vor Angst den Verstand verlieren. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll, so ganz allein in diese Welt geworfen. Finden Sie nicht auch, daß ›den Verstand verlieren‹ ein großartiger Ausdruck ist?«
    Ich mußte lachen und nahm ihre Hand. »Keine Sorge, alles wird gut werden. Bis hierher haben Sie es auch aus eigener Kraft geschafft.«
    »Nein, nicht aus eigener Kraft«, sagte Reiko. »Naoko und Sie haben mich da rausgebracht. Ich hätte es nicht ertragen, ohne Naoko zurückzubleiben, und ich mußte nach Tōkyō kommen, um in Ruhe mit Ihnen reden zu können. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich wahrscheinlich mein ganzes Leben dort verbracht.«
    Ich nickte.
    »Was haben Sie jetzt vor?«
    »Ich ziehe nach Asahikawa! Asahikawa, ist das zu fassen?« sagte Reiko. »Eine Studienfreundin von mir hat dort eine Musikschule und bittet mich schon seit zwei, drei Jahren bei ihr einzusteigen, aber ich habe immer abgelehnt, weil es mir dort oben zu kalt ist. Und nun, was soll ich sagen? Endlich habe ich meine Freiheit wieder und gehe nach Asahikawa. Das ist doch das letzte Loch!«
    »So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, lachte ich. »Ich war nur einmal dort, aber die Stadt ist nicht übel. Sie hat eine interessante Atmosphäre.«
    »Wirklich?«
    »Ja, viel schöner als Tōkyō.«
    »Ich hab sowieso keine andere Wahl. Mein Gepäck habe ich auch schon vorgeschickt. Herr Watanabe, würden Sie mich mal in Asahikawa besuchen?«
    »Natürlich besuche ich Sie. Aber müssen Sie denn gleich wieder abreisen? Könnten Sie nicht zuerst eine Weile in Tōkyō bleiben?«
    »Ich hatte an zwei, drei Tage gedacht, wenn ich bei Ihnen übernachten kann. Aber nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    »Überhaupt kein Problem. Ich schlafe in meinem Wandschrank im Schlafsack.«
    »Das geht doch nicht!«
    »Doch, mein Wandschrank ist riesig.«
    Reiko trommelte einen Rhythmus auf dem Gitarrenkasten, der zwischen ihren Beinen stand. »Vielleicht muß ich mich ein bißchen anpassen, bevor ich nach Asahikawa gehe. Ich bin ja überhaupt nicht mehr an eine normale Umgebung gewöhnt. Es gibt so viel Unverständliches für mich, und ich bin so aufgeregt. Würden Sie mir ein bißchen helfen? Sie sind der einzige, den ich darum bitten kann.«
    »Ich würde alles tun, um Ihnen zu helfen.«
    »Aber ich störe Sie doch nicht, oder?«
    »Bei was könnte man mich schon stören?«
    Reiko sah mich an, verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln und sagte nichts mehr.
    Nachdem wir in Kichijōji in den Bus umgestiegen waren, der zu meinem Haus fuhr, sprachen wir kaum noch etwas, abgesehen von gelegentlichen Bemerkungen über die Veränderungen, die in Tōkyō stattgefunden hatten, über Reikos Studienzeit und meine Reise nach Asahikawa. Naoko erwähnten wir mit keinem Wort. Seit ich Reiko zuletzt gesehen hatte, waren fast zehn Monate vergangen, aber jetzt neben ihr zu gehen, hatte einen seltsam beruhigenden und tröstlichen Einfluß auf mich. Es war ein vertrautes Gefühl. Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, daß diese Situation mich an meine Wanderungen durch Tōkyō mit Naoko erinnerte. Ebenso wie Naoko und ich den toten Kizuki gemeinsam besessen hatten, teilten Reiko und ich jetzt die tote Naoko. Dieser Gedanke ließ mich plötzlich verstummen. Reiko sprach noch eine Weile allein weiter, aber als sie merkte, daß ich nichts mehr sagte, verfiel auch sie in Schweigen, und wir saßen wortlos im Bus.
    Es war ein klarer Herbstnachmittag, genau wie jener, an dem ich vor einem Jahr nach Kyotō gereist war, um Naoko zu besuchen. Die Wolken waren schmal und weiß wie Knochen, und der Himmel erschien unendlich hoch. Der Geruch des Windes, die Farbe des Lichts, die winzigen Blüten der Gräser, der leise Widerhall der Geräusche, alles kündete von der Ankunft des Herbstes. Von nun an würde der Kreislauf der Jahreszeiten meine Distanz zu den Toten ständig vergrößern. Kizuki war siebzehn und Naoko einundzwanzig.
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