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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln
Autoren: Haruki Murakami
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Für alle Zeit.
    »In dieser Umgebung fühle ich mich richtig erleichtert«, seufzte Reiko, als wir aus dem Bus ausstiegen und sie sich umschaute.
    »Weil hier nichts los ist«, erwiderte ich.
    Nachdem ich sie durch den hinteren Zugang durch den Garten ins Haus geführt hatte, zeigte sich Reiko von allem sehr beeindruckt.
    »Aber das ist ja toll«, rief sie. »Das haben alles Sie gemacht? Die Regale und den Schreibtisch auch?«
    »Ja«, sagte ich, während ich Tee aufgoß.
    »Sie sind handwerklich sehr geschickt, Herr Watanabe. Und alles ist so sauber!«
    »Das verdanke ich Sturmbandführers Einfluß. Er hat mich zum Putzteufel erzogen – zur Freude meines Vermieters.«
    »Ach ja, Ihr Vermieter, ich muß ihn noch begrüßen«, sagte Reiko. »Wahrscheinlich wohnt er dort drüben auf der anderen Seite des Gartens?«
    »Begrüßen? Den Vermieter? Wieso denn das?«
    »Selbstredend. Was soll er sich denn denken, wenn eine seltsame, nicht mehr ganz junge Dame bei Ihnen einzieht und anfängt, Gitarre zu spielen? Dem beugen wir besser gleich mal vor. Zu diesem Zweck habe ich auch eine Schachtel Teegebäck für ihn mitgebracht.«
    »Sie denken aber auch an alles.«
    »Altersweisheit. Ich werde ihm erzählen, ich sei Ihre Tante mütterlicherseits zu Besuch aus Kyotō, also spielen Sie bitte mit. Das wird leicht, weil der Altersunterschied zwischen uns stimmt. Wer würde da mißtrauisch werden?«
    Reiko nahm eine Schachtel mit Süßigkeiten aus ihrem Koffer und ging zum Haupthaus hinüber. Ich setzte mich einstweilen mit meiner Tasse Tee auf die Veranda und spielte mit der Katze. Nach ungefähr zwanzig Minuten kam Reiko zurück und kramte eine Büchse mit Reiskräckern, das Mitbringsel für mich, aus ihrem Gepäck.
    »Worüber haben Sie sich denn zwanzig Minuten lang mit ihm unterhalten?« fragte ich, den Mund voller Kräcker.
    »Natürlich über Sie.« Reiko nahm die Katze auf den Arm und hielt sie an ihre Wange. »Er sagt, Sie seien ein ernsthafter Student. Er hält eine Menge von Ihnen.«
    »Von mir?«
    »Zweifellos.« Reiko lachte. Als sie meine Gitarre entdeckte, nahm sie sie zur Hand, stimmte sie und spielte Desafinado von Antonio Carlos Jobim. Ihr Spiel, das ich lange entbehrt hatte, wärmte mir genauso das Herz wie damals.
    »Sie haben Gitarre geübt?« fragte sie.
    »Ich habe sie mir aus dem Schuppen geliehen, um ab und zu ein bißchen darauf zu klimpern.«
    »Dann will ich Ihnen nachher gleich mal eine Gratisstunde geben.« Reiko stellte die Gitarre ab und zog ihr Tweedjackett aus. Sie setzte sich auf die Veranda und rauchte gegen einen Pfosten gelehnt eine Zigarette. Sie trug eine kurzärmlige Bluse aus Madraskaro.
    »Ist das nicht eine schicke Bluse?« fragte sie mich.
    Ich stimmte ihr zu. Es war wirklich eine aparte Bluse.
    »Sie hat Naoko gehört. Wußten Sie, daß wir fast die gleiche Größe hatten? Besonders am Anfang, als sie kam. Später hat sie dann ein bißchen zugenommen, aber wir hatten trotzdem immer noch ungefähr die gleiche Größe: Blusen, Hosen, Schuhe, Mützen. Nur unsere BH-Größe war verschieden. Ich habe fast keinen Busen. Wir haben ständig unsere Sachen getauscht. Eigentlich waren sie sogar fast unser gemeinsamer Besitz.«
    Ich betrachtete Reikos Körper nun mit anderen Augen. Es stimmte, sie hatte eine ganz ähnliche Figur wie Naoko. Ihr schmales Gesicht und ihre dünnen Arme und Beine hatten in mir den Eindruck erweckt, sie sei kleiner und zierlicher als Naoko, doch auf den zweiten Blick wirkte sie doch kräftiger.
    »Die Jacke und die Hose haben auch ihr gehört. Stört es Sie, mich in Naokos Kleidern zu sehen?«
    »Gar nicht. Naoko hätte sich gefreut, daß jemand ihre Sachen trägt – besonders wo Sie dieser Jemand sind.«
    »Merkwürdig«, sagte Reiko und schnippte leise mit den Fingern. »Naoko hat kein Testament oder so etwas hinterlassen, nur eine Notiz, die ihre Kleider betraf. Auf dem Block, den sie auf ihren Schreibtisch gelegt hat, stand nur eine Zeile. ›Bitte, geben Sie Reiko meine Kleider.‹ Ein seltsames Mädchen, finden Sie nicht? Sie machte sich bereit zu sterben und hat an ihre Kleider gedacht. Warum ausgerechnet an ihre Kleidung? Sie muß doch massenweise andere Dinge im Kopf gehabt haben!«
    »Vielleicht auch nicht.«
    Rauchend hing Reiko eine Zeitlang ihren Gedanken nach. »Sie möchten nun sicher die Geschichte von Anfang an und in allen Einzelheiten hören?«
    »Ja, bitte erzählen Sie.«
    »Obwohl die Tests in der Klinik in Ōsaka eine zeitweilige Besserung von
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