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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln
Autoren: Haruki Murakami
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jeden Winkel, angefangen von den Schlafräumen bis zum Wald. Wir brauchten fünf Stunden, um sie zu finden. Sie hatte sogar ihren eigenen Strick dabeigehabt.«
    Reiko seufzte und strich der Katze über den Kopf.
    »Möchten Sie noch Tee?« fragte ich.
    »Ja, bitte.«
    Ich goß Tee auf und brachte ihn auf die Veranda. Der Sonnenuntergang näherte sich, das Tageslicht wurde schwächer, und die langen Schatten der Bäume berührten unsere Füße. Während ich meinen Tee trank, betrachtete ich den seltsam unorthodoxen Garten, in dem Ginster, Azaleen und Nandinen wild durcheinandersprossen.
    »Schließlich kam ein Krankenwagen und transportierte Naokos Leichnam ab. Ich wurde routinemäßig von der Polizei befragt, obwohl es nicht viel zu fragen gab. Es war eindeutig Selbstmord, denn sie hatte eine Art Abschiedsnotiz hinterlassen, und zudem schienen die Polizisten der Ansicht zu sein, daß Patienten in einer Nervenklinik naturgemäß eben manchmal Selbstmord begehen. Als die Polizei fort war, habe ich Ihnen sofort telegrafiert.«
    »Eine erbärmliche Trauerfeier war das«, begann ich. »Totenstill und ganz wenig Leute. Ihre Familie wollte unbedingt wissen, wie ich von Naokos Tod erfahren hatte. Das schien ihre größte Sorge zu sein. Offensichtlich fürchteten sie, es könnte bekannt werden, daß es ein Selbstmord war. Ich hätte gar nicht hinfahren sollen. Danach ging es mir so schlecht, daß ich abgehauen bin.«
    »Wollen wir einen Spaziergang machen? Und fürs Abendessen einkaufen? Ich hab einen Bärenhunger.«
    »Klar, haben Sie Appetit auf etwas Bestimmtes?«
    »Sukiyaki«, sagte Reiko. »Das habe ich seit Jahren nicht gegessen. Ich habe früher oft von Sukiyaki geträumt – mich mit Fleisch, Frühlingszwiebeln, Konnyaku, gebratenem Tōfu und Gemüse vollzustopfen…«
    »Einverstanden, aber ich habe keine Sukiyaki-Pfanne.«
    »Überlassen Sie das nur mir. Ich leihe uns eine von Ihrem Vermieter.«
    Sie lief hinüber und borgte sich eine prima Sukiyaki-Pfanne, einen Gaskocher und einen langen Gummischlauch.
    »Und? Wie habe ich das gemacht?«
    »Phantastisch«, lobte ich sie.
    In der kleinen Geschäftsstraße in der Nähe kauften wir Rindfleisch, Eier, Gemüse und Tōfu und im Spirituosenladen einen recht guten Weißwein. Als ich bezahlen wollte, ließ Reiko mich nicht.
    »Die ganze Familie würde mich auslachen, wenn ich meinen Neffen das Essen bezahlen ließe«, sagte Reiko grinsend. »Außerdem bin ich ziemlich reich. Seien Sie also unbesorgt. Ich habe mich doch nicht ohne Geld auf den Weg gemacht.«
    Wieder zu Hause, wusch Reiko den Reis und setzte ihn auf. Ich schloß den Gummischlauch an und brachte den Gaskocher und die Zutaten für das Sukiyaki auf die Veranda. Als alles vorbereitet war, nahm Reiko ihre Gitarre aus dem Kasten, setzte sich auf die inzwischen fast dunkle Veranda und spielte langsam und bedächtig eine Bach-Fuge. Schwierige Stellen spielte sie absichtlich langsamer oder schneller, mal schroff, mal sentimental, wobei sie sichtliche Freude an der Vielfalt der Klangfarben empfand, die sie hervorbrachte. Wenn Reiko Gitarre spielte, glich sie einem siebzehn- oder achtzehnjährigen Mädchen beim Anblick eines Kleides, das ihm gefällt. Ihre Augen blitzten, die Lippen waren konzentriert zusammengepreßt, aber von einem zarten Lächeln umspielt. Als sie zu Ende gespielt hatte, sah sie, gegen einen Verandapfosten gelehnt, gedankenversunken in den Himmel.
    »Darf ich mit Ihnen reden?« sagte ich.
    »Klar, ich habe gerade nur an meinen Hunger gedacht.«
    »Wollen Sie nicht Ihren Mann und Ihre Tochter besuchen? Sie wohnen doch sicher in Tōkyō?«
    »In Yokohama. Nein, ich habe es nicht vor. Das habe ich Ihnen aber bestimmt schon einmal gesagt. Für die beiden ist es besser, wenn sie nichts mehr mit mir zu tun haben. In ihrem neuen Leben ist kein Platz für mich. Und mir würde es großen Schmerz bereiten, sie zu sehen. So ist es am besten.«
    Sie zerdrückte ihre leere Seven-Star-Schachtel, warf sie weg und holte ein neues Päckchen aus ihrem Koffer, riß es auf und steckte sich eine Zigarette in den Mund, ohne sie jedoch anzuzünden.
    »Als Mensch bin ich am Ende. Was Sie hier sehen, ist nicht mehr als der Rest einer Erinnerung an die Frau, die ich einmal war. Der wichtigste Teil von mir ist längst gestorben, und ich funktioniere nur, indem ich meiner Erinnerung folge.«
    »Aber ich mag Sie unheimlich gern, so wie Sie jetzt sind, Rest von Erinnerung hin oder her. Und vielleicht spielt es keine Rolle, aber
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