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Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17

Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17

Titel: Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17
Autoren: Bastei Lübbe
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Hertwiga ihr mit verdrehtem Genick zugewinkt hatte, rührte Annika auch den Notruf nicht mehr an.
    Somit war sie dankbar für die Fernsehbilder. So surreal das TV-Programm auch anmutete, der matte Schein des Bildschirms war das Einzige, was der Finsternis trotzte und woran sie sich verzweifelt festklammern konnte, damit sie nicht wahnsinnig wurde, ehe sie aus diesem Albtraum erwachte.
    Oder bis Kai kam und sie erlöste.
    Annika starrte fest auf den Fernsehschirm. Sie sah eine nackte Spielzeugpuppe, deren heller Plastikkörper in substanzloser Schwärze schwebte. Dann kamen zwei kleine Hände dazu. Sie endeten an den Gelenken, als wären sie abgeschnitten. Weißen Vögeln gleich, flatterten sie um die Puppe herum und begannen damit, sie anzuziehen. Wie aus dem Nichts materialisierten sich die Puppenkleider in den Geisterfingern. Annika wusste, dass der Name der Puppe Charlotte lautete. Charlotte war Annikas Lieblingspuppe gewesen, bis sie während eines Familienurlaubs spurlos abhandenkam. Dieser Verlust hatte einen lange anhaltenden Verlustschmerz in der kleinen Annika ausgelöst.
    Das TV-Bild wechselte.
    Und Annika blickte in das Gesicht ihres Vaters. Es war so, wie sie es zuletzt gesehen und seither in Erinnerung behalten hatte: nach seinem Tod, in der Aussegnungshalle des Klinikums. Seine Nüstern waren schlaff und scharf gezeichnet, die Augäpfel wölbten sich unter papierdünnen Lidern.
    Plötzlich sickerten Tränen durch die geschlossenen Augendeckel und füllten die Höhlen wie elfenbeinerne Kelche. Die Gefäße flossen über, und eine Tränenflut nässte die eingefallenen Wangen. Der Mund ihres Vaters öffnete sich wie zum verzweifelten Schrei. Größer und größer wurde die Mundöffnung, bis die Schwärze des Schlundes alles verschlang.
    Aus der Schwärze schälte sich ein neuer Anblick hervor.
    Annika erkannte Kai.
    Neben Kai stand der Arzt, der vorher mit dem Stethoskop auf den Leitersprossen balanciert hatte.
    Diesmal wirkten die wackligen TV-Bilder, als schliche ein zudringlicher, aber körperloser »Dogma«-Filmer mit seiner Handkamera um die beiden herum und spionierte über ihre Schulter.
    Der Arzt reichte Kai das Foto einer jungen Frau. Annika erkannte sie sofort.
    Diesmal kam der Ton aus dem Telefonhörer, ohne dass Annika zuvor eine Wähltaste drücken musste.
    »Das ist Nanita Kesslew«, sagte der Arzt. »Vor vierzehn Jahren hat sie als Krankenschwester auf der hiesigen Kinder-Krebsstation gearbeitet. Ein Job, dem sie emotional nicht gewachsen war. Weil sie das Leid der Kinder nicht länger ertrug, tötete sie sich selbst mit einer Überdosis Insulin.«
    Der Arzt heftete das Foto wieder an die Wand. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf ein stark vergilbtes Zeitungsfoto. Es zeigte eine Frau, deren Lächeln eine breite Lücke zwischen den Schneidezähnen entblößte.
    »Oberschwester Hertwiga Häßlin. Sie beherrschte 1936 als ›Schwester Gnadenlos‹ die Schlagzeilen. Häßlin spritzte in diesem Klinikum sechs Patienten zu Tode. Doch zu ihrem Pech stimmten ihre Euthanasiekriterien nicht mit denen der Nazis überein. Daher starb sie 1937 unter dem Fallbeil.«
    Das nächste Bild, das er Kai zeigte, war ein Gruppenfoto. Es sah aus, als wäre es aus einer Werbebroschüre des Klinikums herausgetrennt worden. Männer und Frauen in chirurgischer Arbeitsgewandung sowie mehrere OP-Schwestern scharten sich um einen hochgewachsenen Mann, der ebenfalls im Arbeitskleid eines Chirurgen posierte.
    »Professor Enggässer und sein verschworenes Team«, hörte Annika den Arzt sagen. »Sie waren Satansanbeter.«
    »Sie glauben mir nicht?«, meinte der Arzt. »Verständlich. Es war unglaublich … so sehr, dass es komplett vertuscht werden musste. Nicht nur nach außen, sondern auch intern. Auf der Führungsebene der Klinik wurden der Weggang des Professors und die Entlassung von drei Oberärzten, vier Assistenzärzten und vier OP-Schwestern damit begründet, dass sie für einen wichtigen industriellen Sponsor des Klinikums, der nicht verprellt werden durfte, heimlich neue Narkosemittel getestet hätten, wobei drei OP-Patienten verstarben.«
    Der Arzt deutete auf das Bild. Neben dem Zeigefinger fehlte ihm der Daumen.
    »Aber in Wahrheit hatten sie alle einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Die einen, weil sie beruflich Karriere machen wollten, die anderen … was weiß ich, warum. Vielleicht, um im Lotto zu gewinnen oder um hundert Jahre lang zu leben. Sie hatten auch nicht drei, sondern mindestens neun Menschen auf
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