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Nächte in Babylon

Nächte in Babylon

Titel: Nächte in Babylon
Autoren: Daniel Depp
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für die freundliche Begrüßung, Shirley. Danke auch der West Hollywood Arts Society für die heutige Einladung. Obwohl es bei diesem strahlenden Wetter natürlich jeden nach draußen zieht, möchte ich versuchen, Sie für ein Thema zu erwärmen, das mir sehr am Herzen liegt.«
    Während Mrs. Boyagian mit einem Lächeln dem Beginn des Vortrags folgte, fiel ihr das kleine Röhrchen auf, das Anna neben ihrem Teller liegen gelassen hatte. Es sah aus wie eine Parfümprobe: wahrscheinlich teuer, wahrscheinlich französisch. Sie lehnte sich unauffällig ein Stückchen hinüber und schnupperte. Nichts. Mist.
    »Wenn uns jemand vorschlagen würde, wir sollten das Lincoln Memorial in Washington verfallen oder die Kunstwerke im New Yorker Metropolitan Museum of Art verrotten lassen, würden wir auf die Barrikaden steigen. So etwas ließen wir niemals geschehen. Ein Aufschrei der Empörung würde durchs Land fegen. Niemand käme auf die Idee, unsere nationalen Schätze zugrunde gehen zu lassen.«
    Mrs. Boyagian stupste das Röhrchen mit dem Finger an. Es rollte über die Tischdecke, aber zum Glück – und zu ihrer großen Erleichterung – nicht über die Kante. Verstohlen ließ sie ihre Hand hinterherwandern.
    »Trotzdem geschieht es, Tag für Tag. Das ist die unangenehme Wahrheit, der wir uns stellen müssen. Nein, nicht das Lincoln Memorial oder das Metropolitan Museum, sondern unser eigenes reiches Erbe, hier in Los Angeles. Wir lassen es zu, dass Hunderte alter Gebäude verfallen, architektonische Meisterwerke aus L. A.s Goldenem Zeitalter, der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir lassen es zu, dass sie abgerissen werden, um Platz zu schaffen für …«
    Plötzlich sah Anna, wie Mrs. Boyagian das Röhrchen vom Tisch nahm. Ihr wurde flau. Wie durch einen Schleier hindurch sah sie das Ende der Welt nahen – zumindest für gut fünfzig Beverly-Hills-Hausfrauen, drei mexikanische Kellner und eine abgetakelte Schauspielerin mit Fettsteiß. Sie geriet ins Stocken.
    »… für Einkaufszentren und Fastfood-Restaurants. Sie, äh …«
    Anna stand das Wasser bis zum Hals. Genauer gesagt, bis zur Oberkante der unaufgespritzten Unterlippe. Mrs. Boyagian nahm das Röhrchen neugierig in Augenschein. Die Flüssigkeit hatte eine sehr seltsame Farbe. Es musste sich um ein völlig neues Produkt handeln.
    »Sie, äh, sie …« Leg es wieder hin, du blöde Kuh, bitte, bitte, mach es nicht auf. »Jedes Jahr werden Dutzende städtebaulicher Kleinode dem Erdboden gleichgemacht, um Platz zu schaffen für Bauten, die keinerlei ästhetischen Wert besitzen und sich darüber hinaus auch noch wie Krebsgeschwüre vermehren …«
    Mrs. Boyagian konnte der Versuchung, sich eine Nase voll aus dem Röhrchen zu gönnen, kaum noch widerstehen. Ich muss kotzen, dachte Anna. In fliegender Eile spulte sie den Rest ihrer Rede herunter.
    »… und unser schönes Südkalifornien verschandeln. Deshalb möchte ich Sie heute bitten, dass Sie …«
    Nur ein kleines Näschen voll, dachte Mrs. Boyagian. Sie fing an, den Deckel aufzuschrauben.
    » MRS . BOYAGIAN !«, schrie Anna.
    Mrs. Boyagian ließ das Röhrchen fallen. Es landete in ihrem Schoß und blieb in einer Stofffalte hängen. Sie setzte eine andächtig lauschende Miene auf.
    »… und die übrigen Mitglieder der West Hollywood Arts Society mich und meine Mitstreiter bei unseren Bemühungen unterstützen, möglichst viele dieser wunderschönen alten Gebäude zu erhalten. Ich danke Ihnen.«
    Mrs. Boyagian war die Einzige, die sich erhob und applaudierte, als ob sie der Schlampe – denn das wusste ja wohl jeder, dass Anna Mayhew mit so ziemlich jedem geschlafen hatte – ihre eigene kleine Miniovation bringen wollte. Dabei ging es ihr lediglich darum, das Röhrchen unbemerkt auf den Boden rutschen zu lassen. Und wenn Anna es vermisste? Dann waren die inkompetenten Mexikaner schuld.
    Anna lief zum Tisch. Das Röhrchen war weg. Die verfluchte Kuh hatte es auch nicht mehr in der Hand. Die Zimtzicke hat es geklaut, sie macht es auf, wenn sie wieder zu Hause ist, auf dass sie sich in Bälde mit ihrem verkalkten Produzentengatten und ihren Hausmädchen und Gärtnern und Miezekatzen und chinesischen Faltenhunden im Himmel ein Stelldichein geben wird.
    »Inspirierend«, sagte Mrs. Boyagian, während sie sich wieder ans Rednerpult begab. »Ich danke Ihnen, Anna Mayhew, dass Sie uns an eine unserer wichtigsten Bürgerpflichten erinnert haben. Es muss uns allen ein Anliegen sein, unser architektonisches
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