Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachts

Nachts

Titel: Nachts
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
sein Gehirn und drohte, die Schale zu zerreißen und Wahnsinn einströmen zu lassen.
    Kevin riß sich von seinem Vater los, wobei er das Hemd entlang der Schulter aufriß. Seine Stimme war von einer tiefen, seltsamen Ruhe erfüllt. »Nein er würde uns folgen. Ich glaube, er will mich, weil er Pop schon hat, falls er ihn überhaupt wollte, und weil ich die Kamera sowieso als erster hatte. Aber damit würde er sich nicht begnügen. Er würde auch dich fressen. Und auch damit würde er sich wahrscheinlich nicht begnügen.«
    »Du kannst nichts machen!« schrie sein Vater.
    »Doch«, sagte Kevin. »Ich habe eine Chance.«
    Und hob die Kamera.

    Die Kanten des Bilds wurden eins mit den Rändern des Schreibtischs. Aber anstatt nach unten zu kippen, wuchsen und wanden sie sich weiter. Jetzt glichen sie seltsamen Schwingen, die irgendwie mit Lungen ausgerüstet waren und auf eine gequälte Weise zu atmen versuchten.
    Die gesamte Oberfläche des amorphen, pulsierenden Dings blähte sich weiter auf; was eine glatte Oberfläche sein sollte, war zu einem gräßlichen Tumor geworden, von dessen knotigen, rissigen Seiten gallige Flüssigkeit troff. Er verströmte den unangenehmen Geruch von verbrennendem Käse.
    Das Brüllen des Hundes war kontinuierlich geworden, das eingesperrte und wütende Kläffen eines Höllenhundes, der mit aller Macht herauswollte, und einige Uhren des verstorbenen Pop Merrill schlugen immer wieder, wie ein Protest.
    Mr. Delevans panischer Wunsch zu fliehen war von ihm abgefallen; er f ühlte eine tiefe und gefährliche Lässigkeit in sich, eine Art tödliche Schläfrigkeit.
    Kevin hielt den Bildsucher der Kamera ans Auge. Er war nur ein paarmal mit auf Hirschjagd gewesen, wußte aber noch, wie es war, wenn man versteckt mit dem Gewehr wartete, während die Partner durch den Wald auf einen zugingen und dabei absichtlich soviel Lärm wie möglich machten und hofften, auf diese Weise etwas aus dem Unterholz und auf die Lichtung zu treiben, wo man wartete und in sicherer Feuerposition verharrte, damit die Schüsse schräg an den Männern vorbeigingen. Man mußte sich keine Sorgen machen, sie zu treffen, man mußte sich nur darauf konzentrieren, den Hirsch zu treffen.
    Und man hatte Zeit, sich zu fragen, ob man ihn treffen konnte, falls er sich überhaupt zeigte. Man hatte auch Zeit, sich zu fragen, ob man es überhaupt fertigbringen würde zu feuern. Zeit zu hoffen, der Hirsch würde hypothetisch bleiben, damit man die Probe aufs Exempel gar nicht erst machen mußte und so war es auch immer gewesen. Das eine Mal, als wirklich ein Hirsch gekommen war, war Bill Roberson, der Freund seines Vaters, im Versteck gelegen. Mr. Roberson hatte die Kugel genau dort plaziert, wo man sie plazieren sollte, an der Schnittstelle von Hals und Schulter, und sie hatten den Wildhüter geholt, damit er sie mit dem Tier fotografierte, ein Zwölfender, mit dem man getrost prahlen konnte.
    Wette, du wünschst dir, du wärst mit dem Schießen drangewesen, Junge, oder nicht? hatte der Wildhüter gefragt und Kevin das Haar zerzaust (damals war er zwölf gewesen und der Wachstumsschub, der vor etwa sechzehn Monaten eingesetzt und ihn inzwischen auf die Größe von einem Meter neunundsiebzig gebracht hatte, noch ein Jahr entfernt was bedeutete, er war noch nicht groß genug, einem Mann böse zu sein, der ihm das Haar raufen wollte). Kevin hatte genickt und sein Geheimnis für sich behalten: Er war froh, daß er nicht mit dem Schießen an der Reihe gewesen war, daß sein Gewehr nicht dafür verantwortlich war, die Kugel abzufeuern und wenn er den Mut zum Schießen aufgebracht hätte, wäre seine Belohnung lediglich noch eine lästige Verantwortung gewesen: den Hirsch sofort zu erschießen. Er wußte nicht, ob er in der Lage gewesen wäre, noch eine Kugel in das Tier zu jagen, falls es nicht auf der Stelle tot gewesen wäre, oder die Kraft, seiner Blut und Eingeweidespur zu folgen, wenn es weglief, und zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte.
    Er hatte zu dem Wildhüter aufgelächelt und genickt, und sein Vater hatte davon ein Bild gemacht; und es hatte nie eine Veranlassung bestanden, seinem Vater zu erzählen, daß der Gedanke, der ihm unter seiner Stirn und der zausenden Hand des Wildhüters durch den Kopf gegangen war, der folgende gewesen war: Nein.
    Das wünsche ich mir nicht. Die Welt ist voll von Mutproben, aber mit zwölf ist man noch zu jung, ihnen nachzujagen. Ich bin froh, daß es Mr. Roberson getroffen hat. Ich bin noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher