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Nachts kommen die Fuechse

Nachts kommen die Fuechse

Titel: Nachts kommen die Fuechse
Autoren: Cees Nooteboom
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wo ich dieses schreibe, sehe ich eine Wiese, eine schmale Landstraße, die nach links biegt. Der Asphalt ist naß. Es ist Winter, aber es liegt kein Schnee wie sonst in dieser Jahreszeit. Die Bäume vor mir sind kahl. Birken, eine abgestorbene Tanne, ein kleiner Teich. Daneben ist jemand ohne Grabstein begraben. Dahinter eine zweite Wiese und eine dritte. Der Boden sumpfig, matschig, das weiß ich von meinen Spaziergängen. In der Ferne Wälder wie eine schwarze Wehr.
    Wehr ist vielleicht kein gebräuchliches Wort, aber es paßt zu Täuschung.
    Sprache ist etwas, was man erbt, man ist nie ganz man selbst, wenn man spricht, auch das hilft beim Lügen. Wenn schönes Wetter wäre, könnte ich die Alpen sehen, dann wäre der Schein offensichtlicher, denn auf dem Foto hier auf meinem Tisch ist keine Rede von Bergen. Ich sehe die anderen auf dem Foto an. Sie – ich muß daran festhalten, die Zeit für wir kommt erst nachher – stehen in einer mediterranen Landschaft. Weit entfernt im Raum, weit entfernt in der Zeit. Eine zerzauste Gruppe, in Kleidern für draußen. Fünf Männer, zwei Frauen, ein halber Hund. Wäre das Foto auf der rechten Seite einen Zentimeter breiter, dann hätte man sehen können, ob das linke Ohr des weißen Hundes ebenfalls schwarz war. Im Hintergrund ein alter Bauernwagen. Was für ein Spiel ist das, so tun zu wollen, als würde ich diese Menschen nicht kennen? Denke ich, daß ich ihnen mit diesem Trick ihre Rätsel entlocken kann? Nur indem ich sie anschaue? Oder will ich Fremde aus ihnen machen, gerade weil ich ihre Rätsel kenne? Sie haben alle schon ungefähr fünfzig Jahre gelebt, soviel ist deutlich. Armut ist nicht ihr Problem, auch das ist zu erkennen. Bessere Kreise, rustikale Kleidung.
    Vielleicht gehen sie gleich auf die Jagd oder versorgen ihre Pferde. Jemand, der dieses Foto findet,jetzt oder in fünfzig Jahren, was denkt der? Für den Fall, daß es jetzt ist, verspürt der- oder diejenige dann Neugier, würde sie diese Männer kennen wollen, findet er die Frauen attraktiv? In fünfzig Jahren lauten die Fragen anders. Dann sind diese Menschen ins Totenreich verwiesen oder in ein unwirkliches Alter, dann wird das Betrachten des Fotos eine flüchtige Sekunde lang zu einem melancholischen Exerzitium, allerdings ohne große Konsequenzen. Tote haben wenig Rechte. Ich lasse sie also lieber leben und behaupte, daß dieses Foto ein Jetzt darstellt, ein Jetzt, in dem die sieben Menschen einen unsichtbaren Fotografen (männl./weibl.) ansehen. Nur einer, der Mann mit der Mütze, lacht. Die anderen haben die Ahnung eines Lächelns auf den Lippen, mehr nicht. Ob sie den Fotografen (m/w) kennen, wissen wir nicht, wahrscheinlich schon, denn keiner wirft sich in Positur. Sie stehen einfach da, in einer mehr oder weniger zufälligen Reihe, die Gesichter der Kamera zugewandt. Zwei Sekunden später werden sie sich aus dieser Reihe lösen, wieder miteinander reden. Na schön, Schreiberling, was willst du damit bezwecken? Nur wenn du Alzheimer hättest, wüßtest du nicht mehr, wer diese Menschen sind. Ja, dich meine ich. Einer dieser sieben bist du selbst, zwei der Männer kennst du nicht, bleiben vier, und von einem der vier wolltest du etwas erzählen, weil er der einzige Tote ist. Warum diese ganze Geheimnistuerei?Wolltest du mehr daraus machen, als es ist? Dramen in Romanen oder Filmen sind nur deshalb Dramen, weil die Dauer beschränkt ist, weil man sie zu ein paar Abenden Lesen oder zwei Stunden Schauen zusammenpressen kann, aber sonst? In der Wirklichkeit darf man manche Dinge noch immer als Drama bezeichnen, und trotzdem, wenn man Kunst daraus machen will, muß man eindicken und zusammenpressen, das läßt sich nicht ändern. Dauer war im neunzehnten Jahrhundert eine Tugend, Stendhal, Trollope. Wir dagegen schaffen das nicht mehr, wir werden in einem fort abgelenkt. Unser Chaos macht Geschichten formlos, unübersichtlich. In einer guten Geschichte ist die Zeit sowohl aufgehoben als auch anwesend. Bei Fotos ist immer wichtig, wer nicht darauf ist, aber woher soll man das wissen? Ich meine, wenn man die Menschen auf dem Foto nicht kennt, kann man auch nicht wissen, wer fehlt. Das ist der Unterschied. Heinz steht neben seiner Frau, aber seine erste Frau ist nicht mit drauf. Heinz? Vierter von links und vierter von rechts. Zählt man den Hund nicht dazu, dann steht er genau in der Mitte. Deutscher Name, kein Deutscher. Mittelpunkt. Von dieser Gruppe, und von dieser Geschichte. Ich habe die Fiktion
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