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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel
Autoren: Kenneth Oppel
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Dämmer vor, um alles ganz genau sehen zu können, beobachtete, wie sich die Schwingen bogen, zählte die Zahl der Schläge. Und dann war der Vogel fort, flügelschlagend auf seinem Weg in den mittäglichen Himmel im dichten Laub der Bäume verschwunden.
    »Traumhaft«, murmelte Dämmer mit noch immer laut klopfendem Herzen.
    Er kam aus seinem Versteck hervor, fand eine breite Stelle auf dem Ast und entfaltete seine Segel. Bei dem Vogel hatte das so einfach ausgesehen. Kaum hatte er mit den Flügeln geschlagen, während er sich erhob, schnell und elegant. Vier Schläge. Dämmer sah sich gründlich um, ob ihn auch niemand beobachtete. Dann kauerte er sich nieder, sprang nach oben, breitete die Segel aus und begann kräftig mit ihnen zu schlagen, ein Schlag, zwei, drei … und machte eine Bauchlandung auf dem Ast. Vor Enttäuschung und Scham knirschte er mit den Zähnen.
    Du bist kein Vogel.
    Das hatte ihm sein Vater beim ersten Gleitunterricht gesagt – und später noch einige Male wiederholt, bis Dämmer sich selbst eintrichterte, nie zu flattern, ganz egal, wie drängend das Bedürfnis danach auch war. Doch dieses Bedürfnis hatte ihn nie verlassen. Irgendein störrischer Teil von ihm glaubte immer noch, dass er, wenn er richtig flattern könnte, auch aufsteigen würde.
    Chiropter glitten immer nur nach unten, niemals nach oben. Aber vielleicht könnten sie doch auch aufsteigen, wenn sie das Geheimnis der Vögel herausbekämen. Er konnte doch nicht der einzige Chiropter der Geschichte sein, der so dachte. Doch niemand sonst schien sich auch nur für Flügel zu interessieren oder dafür, wie sie eingesetzt werden könnten.
    Machte er etwas falsch? Flattern war anstrengend, aber vielleicht musste er das schneller als die Vögel tun, um zumindest in die Luft zu steigen. Er schloss die Augen, versuchte sich zu erinnern, wie der Vogel gestartet war, kauerte sich nieder und …
    »Was machst du denn da?«
    Er fuhr herum und sah seine Schwester Sylph, die zusammen mit zwei anderen Neugeborenen, Aeolus und Jib, den Oberen Holm nach außen kletterte. Jibs Großtante war Nova, die zu den Ältesten der Kolonie gehörte. Dämmer fragte sich, wie viel sie wohl gesehen hatten.
    »Oh, hallo«, sagte er und zog beiläufig seine Segel ein. »Ich wollte gerade jagen.«
    »Normalerweise kommst du nie so hoch.« Sylph schaute ihn seltsam an. Sie wusste, wie sehr er das Klettern hasste.
    »Von hier kann ich länger gleiten«, sagte Dämmer. »Und es ist nicht so voll.«
    »Und er kann nicht so viele Chiropter umbringen«, bemerkte Jib feixend.
    »Ich hab seit Tagen keinen umgebracht«, sagte Dämmer und kam somit Jibs Gelächter zuvor. »Und außerdem ist die Zahl der Toten etwas übertrieben worden. Wenn alle ein bisschen schneller segeln würden, gäbe es sehr viel mehr Platz.«
    Dämmer hatte sich einen Ruf als halsbrecherischer und etwas gefährlicher Gleiter erworben. Während der letzten sechs Monate hatte er intensiv zu lernen versucht, langsamer zu werden – mit minimalem Erfolg. Beim Gleiten wollten seine einzelnen Körperteile einfach nicht zusammenarbeiten, und es hatte einige Zusammenstöße mit anderen Chiroptern gegeben, einschließlich einer viel kommentierten Landung auf Jibs Kopf mitten in der Luft, die noch nicht allzu lange her war.
    »Ich hab dich überall gesucht«, sagte Sylph und rieb zur Begrüßung mit ihrer Nase die seine. »Bist du schon lange hier oben?«
    »Was macht ihr eigentlich hier oben auf dem Holm?«, fragte Dämmer und hoffte, damit das Thema zu wechseln. Er bemerkte, wie sich Jib und Aeolus schnell einen Blick zuwarfen, als wollten sie nur ungern antworten.
    »Wir machen einen Wettkampf«, sagte Sylph aufgeregt. »Von hier bis zur Untergrenze. Hast du Lust?«
    »Klingt gut«, sagte Dämmer. »Ich gewinne gern.«
    »Es geht nicht um Schnelligkeit«, erklärte Aeolus etwas spitz. »Das ist ein Jagdwettkampf. Wer beim Gleiten am meisten fängt.«
    »Ach so«, sagte Dämmer.
    Alle Jungen wussten, dass er schnell war, aber auch, dass ihn die Geschwindigkeit beim Jagen behinderte. Weil er schneller fiel, hatte er weniger Zeit, Beute anzupeilen und zu fangen.
    »Gut, warum nicht«, sagte er, denn er war einfach nur froh, dass ihn niemand beim Flattern gesehen hatte. Er konnte sich gut vorstellen, was sie sagen würden.
    Er war schon immer ein bisschen komisch. Und jetzt auch noch das.
    Denkt, er kann fliegen.
    Vogelhirn.
    »Ich glaub nicht, dass das eine so gute Idee ist«, sagte Jib und schnalzte mit
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