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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel
Autoren: Kenneth Oppel
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nicht, welcher Cousin das war – schließlich hatte er ungefähr dreihundert davon.
    »Tut mir leid«, flötete er wieder, dann blickt er hoch, um nach den anderen zu sehen. Da war Sylph! Es sah so aus, als hätte sie gerade eine Schwebefliege erwischt. Aeolus oder Jib konnte er nicht entdecken.
    Unterhalb des Getümmels hatte er Glück, sehr viel Glück. Bei einem Baum schwirrte eine Wolke frisch geschlüpfter Insekten. Er machte eine schnelle Wendung, nahm sie ins Visier, flog durch sie hindurch und hatte mit einem Mal sechs kleine Insekten im Mund. Das siebte spuckte er aus, bevor er anfing zu würgen. Nicht einmal ihr beißender, bitterer Geschmack konnte seine Freude dämpfen – das dürfte ihn in Führung gebracht haben.
    Doch er wollte jetzt nicht nachlässig werden. Seiner Berechnung nach hatte er noch weitere fünfundzwanzig Sekunden und davon wollte er jede nutzen. Augen und Ohren, Kopf und Körper arbeiteten nahtlos zusammen. Er fing eine Waffenfliege und einen Eulenfalter.
    Unter ihm tauchte die Untere Grenze auf, ein großer Ast, der das Ende des Chiroptergebiets markierte. Es war ihnen verboten, von dort aus weiter hinunterzusegeln. Da erblickte Dämmer eine Waldnymphe, die dem Schatten des Waldes zuflatterte. Er entschied, dass er noch genügend Zeit hätte, bevor er landen müsste.
    Er plante seinen Angriff perfekt. Sein Mund war bereits geöffnet, um den dunklen Körper der Motte zu schnappen, als er einen heißen Windstoß gegen seinen Bauch verspürte. Der stieß ihn nach oben und ließ ihn nach einer Seite trudeln, sodass eines seiner Segel schlaff wurde. Einen kurzen Augenblick sackte er ab, ehe er sich wieder fangen konnte. Er war zwar aufgeschreckt, hatte aber keine Angst, denn er wusste, dass er in eine Thermik gekommen war, eine der warmen Luftsäulen, die manchmal gegen Mittag vom Boden aufstiegen. Diese hier war überraschend stark.
    Dämmer zog enge Kreise und hielt nach der Waldnymphe Ausschau, doch die befand sich nun über ihm und war für ihn unerreichbar geworden. Chiropter konnten nur nach unten gleiten, niemals nach oben. Er zuckte verärgert mit den Ohren.
    Die Untere Grenze lag jetzt vor ihm, und er glitt hinein zu einer ordentlichen, wenn auch nicht eleganten Landung. Mit viel Übung hatte sich seine Technik im Lauf der Monate verbessert. Dann zählte er auf, was er an Beute gehabt hatte, und konnte es kaum glauben. Das war stark. Sehr stark. Und es wäre noch stärker gewesen, wenn er nicht in die Thermik geraten wäre. Er fragte sich, wie viel wohl Sylph und die beiden anderen geschafft hatten.
    Während er wartete, spähte er auf den Waldboden hinunter. Rund zwanzig Meter weiter unten befand sich ein dichtes Gestrüpp von Tee- und Lorbeersträuchern, Farnen und Schachtelhalmen. Er schmeckte die Luft mit der Zunge: ein schwüler Gestank von Blättern und Blumen, von verfaulender Vegetation und sonnengetrocknetem Schlamm – und von Urin. Dort unten war er noch nie gewesen. Alle möglichen Arten von vierfüßigen Grundlingen lebten da im Unterholz, suchten nach Nahrung und verbargen sich dort. Sein Vater hatte gesagt, dass die meisten harmlos, andere aber nicht so sehr freundlich wären. Zum Glück konnte keiner von denen auf Bäume klettern. Wenn er genauer lauschte, hörte er sie schlurfen und schnaufen, und ab und zu sah er eine dunkle und schnell davonhuschende Gestalt.
    Aeolus setzte zur Landung an, dicht gefolgt von Sylph und Jib.
    »Und wie war es bei euch?«, fragte Dämmer fröhlich.
    »Nicht gut«, sagte Aeolus. »Grad mal acht.«
    »Dreizehn«, sagt Sylph stolz.
    »Zwölf«, murmelte Jib.
    Dämmer wartete einen wunderbaren Augenblick lang. »Fünfzehn«, sagte er dann.
    »Was?«, rief Aeolus aus.
    »Du hast doch keine fünfzehn erwischt«, sagte Jib.
    »Mein Bruder lügt nicht«, sagte Sylph, und Dämmer sah, wie sich ihre Nackenhaare sträubten.
    »Es war das reine Glück«, sagte Dämmer und versuchte damit, eine Prügelei zu vermeiden. Sylph konnte leicht hochgehen. »Da war ein Schwarm von etwas, das gerade ausgeschlüpft war. Ich bin da durchgeglitten und hatte sechs auf einmal! Sie waren winzig.«
    »Die kannst du nur als eins zählen«, murrte Jib.
    Dämmer sagte nichts, hielt aber Jibs wütendem Blick stand.
    »Die zählen als sechs«, sagte Sylph entschieden. »Das ist nur gerecht.«
    Jib hob die Schultern. »Wenn du nicht der Sohn des Anführers wärst, Dämmer, dann wäre es dir wahrscheinlich so gegangen wie Cassandra.«
    »Das Neugeborene, das gestorben
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