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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel
Autoren: Kenneth Oppel
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ist?«, fragte Sylph. »Was meinst du damit, Jib?«
    »Hast du sie nie gesehen? Sie hat noch verrückter ausgesehen als Dämmer. Ihre Mutter hat aufgehört, sie zu säugen.«
    »Warum?«, fragte Dämmer entsetzt.
    »Sie war eine Missgeburt«, sagte Jib mit einem Schulterzucken. »An ihrem Körper war einfach alles falsch. Sie haben sie runter zum Sterbeast gebracht und dort allein gelassen.«
    Dämmer überkam ein Frösteln. Beim Sterbeast war er noch nie gewesen. Er stand weit unten von der schattigen Seite des Baums ab, halb verschleiert von hängenden Moosflechten. Dorthin begaben sich die Kranken und sehr Alten, wenn sie merkten, dass es ans Sterben ging.
    »Es heißt, man kann immer noch ihre Knochen sehen«, sagte Jib und sah Dämmer direkt an. »Möchtest du sie dir nicht mal anschauen?«
    »Willst du damit sagen, dass mit Dämmer was nicht stimmt?«, schrie Sylph Jib an.
    »Nein«, murmelte Jib und rückte ein Stück von ihr ab. »Aber ich hab gehört, dass er wahrscheinlich aus der Kolonie verstoßen worden wäre, wegen seiner Segel und …«
    »Du bist ja so ein schlechter Verlierer«, sagte Sylph angewidert. »Hau bloß ab.«
    Jib schnaubte. »Ich gratulier dir zu deinem glücklichen Sieg, Haarloser. Komm schon, Aeolus. Wir gehen.«
    Dämmer sah ihnen dabei zu, wie sie mit ihrer langen Klettertour zu ihren Jagdästen nach oben begannen.
    »Warum bist du denn mit dem befreundet?«, fragte er seine Schwester.
    »Der ist sonst nicht so gemein.«
    »Vielleicht nicht zu dir. Sag mal, meinst du, Mama und Papa haben ernsthaft überlegt, mich auszusetzen?«
    »Natürlich nicht.«
    »Jib hasst mich einfach, weil er nie Anführer werden kann.«
    »Dämmer, du wirst auch nie Anführer.«
    »Ich könnte es aber werden.«
    »Gut, das könnte ich auch. Ich müsste nur euch alle vorher umbringen.«
    Nebeneinander auf dem Ast hockend, begannen die beiden geistesabwesend, sich gegenseitig das Fell zu lausen.
    »Du bist ziemlich dreckig. Kämmst du dein Fell eigentlich nie?«, fragte Sylph interessiert.
    »Natürlich mache ich das«, sagte Dämmer entrüstet. »Warum? Was ist da drin?«
    »Eine ganze Siedlung von Milben«, murmelte sie, während sie sie glücklich von seinem Rücken aß.
    »Da hat es mich auch sehr gejuckt«, gestand Dämmer leicht beschämt.
    »Ich weiß doch, dass ich immer eine anständige Mahlzeit von dir bekomme.«
    Dämmer grunzte und hoffte, etwas Belastendes im Fell seiner Schwester zu finden, doch abgesehen von ein paar Sporen und einer einsamen Blattlaus war Sylph wie gewöhnlich extrem gut gepflegt.
    »Hast du wirklich fünfzehn erwischt?«, fragte sie zuckersüß.
    »Sylph!«
    »Ich wollte nur ganz sicher gehen.«
    »Du kannst nur nicht akzeptieren, dass ich dich geschlagen habe.«
    »Höchstwahrscheinlich passiert das auch nicht noch einmal«, sagte sie großspurig. »Hast du Lust auf ein Wettrennen bis zu unserem Sitzplatz?«
    »Eigentlich nicht«, sagte er.
    »Hast du Angst, zu verlieren?«
    Er wusste, dass er verlieren würde. In der Luft war er schnell, doch auf der Rinde des Baums verdammten ihn seine fehlenden Krallen und die schwachen Beine dazu, einer der Langsamsten zu sein. Er hasste es zurückzuklettern. Es war immer so entmutigend. Ganz tief atmete er die wohlriechende Luft ein und sein Blick schweifte über die von der Sonne beschienene Lichtung. Überall stiegen Insekten in der warmen Thermik mühelos auf.
    »Ich geb dir sogar einen Vorsprung«, sagte Sylph. »Wie findest du das?«
    »Ich brauch keinen«, sagte er.
    Sie sah ihn verwundert an, dann lachte sie laut auf. »Glaubst du wirklich, du kannst mich schlagen?«
    »Ja, ich glaube schon«, antwortete er mutig.
    »Also gut. Wir treffen uns oben.«
    Sylph flitzte den Stamm hoch. Einen Moment lang beobachtete Dämmer sie voller Neid auf ihre Geschmeidigkeit und Schnelle. Dann warf er sich nach kurzem Zögern vom Ast und breitete seine Segel aus.
    »Was machst du da?«, hörte er Sylph hinter sich rufen.
    Chiropter bewegen sich immer nach unten, nie nach oben, dachte Dämmer. Aber vielleicht konnte er das ändern. Er blickte sich um und versuchte, die Thermik zu finden, auf die er vorhin gestoßen war. Wo war sie?
    »Jetzt verlierst du bestimmt!«, schrie Sylph.
    Er hatte keine Ahnung, ob sein Plan überhaupt aufgehen würde. Er glitt tiefer als die Untere Grenze und mit jeder Sekunde sank er noch mehr. Voller Panik blickte er in die Tiefe. So dicht am Waldboden war er noch nie gewesen. Er sah, dass sich irgendetwas Dunkles im
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