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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel
Autoren: Kenneth Oppel
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kannte, obwohl er mit den meisten von ihnen bisher nur ein paar Worte gewechselt hatte.
    »Und wenn keine Söhne da sind«, fuhr Ikaron fort, »aber auch nur dann, geht die Führung an die Töchter weiter.«
    »Also könnte Sylph eines Tages Anführerin werden?«, fragte Dämmer alarmiert.
    »Eine schreckliche Vorstellung, wirklich«, sagte sein Vater. »Natürlich müssten ihre sieben älteren Schwestern vor ihr sterben. Jedenfalls ist es sehr unwahrscheinlich, dass du als mein neuntgeborener Sohn einmal Anführer wirst.«
    »Ich verstehe«, sagte Dämmer und fand das alles furchtbar ungerecht.
    Er hielt an, um wieder zu Atem zu kommen. Weit über sich konnte er durch die gewaltige Krone des Mammutbaums kleine Stückchen Himmel ausmachen. Einige elegante, gefiederte Geschöpfe schossen durch die Luft. Der Anblick ihrer schlagenden Flügel ließ seinen Bauch aufgeregt kribbeln.
    »Sind wir mit den Vögeln verwandt?«, fragte er seinen Vater.
    »Natürlich nicht«, antwortete der. »Wir haben keine Federn. Wir werden nicht in Eiern ausgebrütet. Und wir können nicht fliegen.«
    Dämmer spähte in der Hoffnung nach oben, noch mehr Vögel zu sehen. Er fand es schön, wie sie sich so mühelos emporschwangen.
    »Wie viel höher gehen wir noch?«, fragte er.
    Sicher hatte sein Vater nicht vor, ihn bis zum Baumwipfel mitzunehmen. Dort herrschten die Vögel, und den Neugeborenen wurde immer gesagt, sie sollten sich da fernhalten. Die Flieger verteidigten energisch ihr Revier, insbesondere dann, wenn sie ihre Brut aufzogen. Zum Glück war der Mammutbaum über hundert Meter hoch und groß genug für sie alle. Dämmer und alle anderen Chiropter lebten im mittleren Bereich. Inmitten der Unmenge mächtiger Äste nisteten sie in den tiefen Kerben, welche die Rinde durchzogen.
    »Jetzt nur noch ein bisschen«, sagte sein Vater zu ihm.
    Obwohl ihn das Klettern so anstrengte, war Dämmer gar nicht so wild darauf, das Ziel zu erreichen, denn er wusste, was ihn dort erwartete. Er und die anderen Neugeborenen hatten zwar endlos darüber geredet, doch Dämmer konnte nicht anders – er hatte Angst.
    »Ist das der größte Baum im Wald?«, fragte er. Er wollte reden.
    »Ich habe nie einen gesehen, der größer war.«
    »Wie alt ist er?«
    »Sehr alt. Tausende von Jahren.«
    »Bist du auch alt?«, fragte er seinen Vater.
    Der lachte überrascht auf. »Nicht ganz so alt. Aber alt genug, um viele Söhne und Töchter zu haben.«
    »Siebzehn zusammen mit Sylph und mir«, sagte Dämmer.
    »Das stimmt, aber ich denke, ihr zwei seid meine letzten.«
    Dämmer war beunruhigt. »Stirbst du bald?«
    »Bestimmt nicht. Aber jeder erreicht mal ein Alter, in dem es nicht länger möglich ist, noch mehr Kinder zu bekommen.«
    Plötzlich hielt Ikaron an. »Das ist der Obere Holm«, sagte er, während er vom Stamm weg auf einen gewaltigen, sehr dicken Ast trat, der über die Lichtung hinausragte. »Bis hierher gehen wir Chiropter. Merk es dir gut. Von hier an aufwärts gehört der Baum den Vögeln.«
    Dämmer betrachtete den Ast genau und prägte sich seine Umrisse ein.
    »Hier entlang«, sagte Ikaron und ging auf allen vieren den Oberen Holm nach außen.
    Mit zittrigen Gliedmaßen zögerte Dämmer einen Augenblick.
    »Du brauchst keine Angst zu haben.« Sein Vater hatte sich ihm zugewandt und wartete.
    Dämmer kam zu ihm. Seite an Seite gingen sie weiter den Ast entlang, dann hintereinander über einen dünneren Ast mit üppigen, nadelartigen Blättern und Kiefernzapfen, die fast so groß wie Dämmer waren. Kurz vor dem Ende des Asts hielten sie an. Er neigte sich leicht unter ihrem Gewicht.
    Das Zirpen der Zikaden hörte plötzlich auf, dann setzte es mit erneuter Kraft ein.
    Dämmer blickte in die Tiefe zwischen den Ästen hindurch bis zum Waldboden, der unglaublich weit entfernt war. Er pinkelte geräuschvoll auf die Rinde.
    »Bist du bereit?«, fragte sein Vater.
    Dämmer antwortete nicht.
    »Spring!«, forderte ihn sein Vater auf.
    »Ich will nicht springen.« Seine Stimme war nur noch ein ungewohntes Krächzen.
    »Du musst aber.«
    Dämmer hatte noch nie den Baum verlassen. »Kann ich zum Nest zurückgehen?«, fragte er.
    »Nein.«
    Dämmer spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. Mehr als alles andere wollte er in die tiefe Kerbe kriechen, in der er schlief, und die duftende Rinde des Baums um sich fühlen.
    »Es ist Zeit«, sagte sein Vater. Obwohl seine Stimme ruhig klang, spürte Dämmer, dass es keine weitere Diskussion geben würde. »Bist du
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