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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter
Autoren: Petros Markaris
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liebe Frau«, sagt der Bürgermeister und schüttelt betrübt den Kopf. »Aber keinen Hubschrauber. Man hat den Landeplatz errichtet, und seit sechs Jahren warten wir auf den Hubschrauber. Wenn es einen Notfall gibt, kommt ein Hubschrauber aus Athen.«
    Es scheint jedoch, daß ihm heute niemand recht geben will, denn kaum hat er seine Worte zu Ende gesprochen, bricht der Fluglärm eines Hubschraubers über uns herein.
    »Na also, da ist er ja! Hab ich es euch nicht gesagt?!« bricht der Bürgermeister in ein Triumphgeheul aus.
    In der Ferne erblicken wir die schwarzen Umrisse des Hubschraubers, der sich mit Blinklicht nähert. Die ganze Polizeitruppe der Insel, also ein Polizeiobermeister und zwei einfache Beamte, ist versammelt und versucht, die Leute im Zaum zu halten. Sie haben sich an den Händen gepackt, doch beim ersten Ansturm wird man sie überrennen. Ohne ein weiteres Wort stelle ich mich schützend vor sie.
    »Nur keine Aufregung«, sage ich sanft zu der Menge. »Diejenigen, die die Sachen bringen, werden sie auch verteilen. Ihr werdet alle etwas bekommen.«
    Ich weiß nicht, ob sich meine Persönlichkeit durchgesetzt hat oder ob sie der Wirbelwind zurückdrängt, der sich bei der Landung des Hubschraubers erhebt. Jedenfalls beginnen sie zurückzuweichen.
    Der Hubschrauber setzt auf dem Beton auf, die Tür öffnet sich, und eine etwa fünfundzwanzigjährige Frau steigt aus, dick geschminkt und aufgedonnert, von der Sorte, die wir früher auf dem Dorf ›flotte Biene‹ nannten.
    »Da wären wir!« ruft sie hocherfreut.
    Plötzlich bricht die Menge in Applaus aus, und sie wiegt sich geschmeichelt in den Hüften. Hinter ihr tauchen statt Zelten und Wolldecken ein bärtiger Kameramann und zwei Typen auf, die Kisten, Stative und Scheinwerfer ausladen.
    »Mann, die sind ja vom Fernsehen«, hört man eine enttäuschte Stimme, und der Applaus fällt in sich zusammen wie der Schaum eines frisch gezapften Bieres.
    »Sind Sie vom Fernsehen?« Der Bürgermeister nähert sich der jungen Frau, bereit, sich in die Bresche zu werfen.
    »Später, später«, sagt sie hektisch. »Zuerst möchte ich die eingestürzten Häuser sehen. Gibt es hier eingestürzte Häuser?«
    »Nein, zum Glück nicht, aber –«
    »Hab ich dir doch gesagt, daß wir nichts finden werden«, sagt der Kameramann zu der Reporterin. »Wir sind ganz umsonst hergekommen, laß uns wieder abhauen.«
    »Ausgeschlossen«, antwortet sie und packt das Mikrofon. »Wir sind schon spät dran, mir geht sonst die Live-Schaltung durch die Lappen.«
    »Zählen denn, um Himmels willen, nur eingestürzte Häuser?« echauffiert sich der Bürgermeister. »Wir stehen seit fünf Stunden im Regen auf der Straße, ohne Licht, ohne Telefon, wir trauen uns nicht in unsere Häuser zurück, und keiner schert sich um uns. Was wollt ihr noch? Sollen wir eigenhändig unsere Häuser einreißen, damit man sich endlich für uns interessiert?«
    »Das ist es!« ruft die flotte Biene begeistert. »Die verbrecherische Gleichgültigkeit des Staates! Wer ist der Bürgermeister? Gibt’s hier so was wie einen Bürgermeister?«
    »Der bin ich.«
    »Ach so, Sie sind das.« Er entspricht zwar nicht ganz ihren Erwartungen, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen. »Wie heißen Sie?«
    »Jagos Kalokyris.«
    »Schön, Herr Kalokyris. Bleiben Sie in meiner Nähe. Ich werde Sie gleich vor die Kamera rufen.«
    Sie packt das Mikrofon und wartet voller Anspannung darauf, live in die Nachrichtensendung geschaltet zu werden. Und da heutzutage alle ohne Ausnahme für das Fernsehen arbeiten, Gott inbegriffen, krachen plötzlich zwei Donnerschläge hernieder und ein heftiger Regenschauer setzt ein.
    »Guten Abend, Jorgos … Guten Abend, meine Damen und Herren …«, sagt die flotte Biene ins Mikrofon, und daran erkennen wir, daß wir auf Sendung sind.
    »Die Situation in dieser Randzone Griechenlands ist dramatisch, Jorgos. Die Bewohner der Insel sind beim ersten Erdstoß der Stärke 5,8 auf der Richter-Skala aus ihren Häusern gestürzt. Seitdem sind fünf Stunden vergangen, und die offiziellen staatlichen Institutionen glänzen durch Abwesenheit. Wie man sieht, gießt es hier in Strömen, und die Bewohner warten vergeblich auf Wolldecken und Zelte, um die erste Nacht nach der Katastrophe im Freien zu verbringen …«
    »Wie hoch ist das Ausmaß der Schäden?« fragt der Moderator.
    »Auf jeden Fall hoch, Jorgos, doch derzeit ist es noch nicht abzusehen, denn die Stromversorgung ist zusammengebrochen,
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