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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter
Autoren: Petros Markaris
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schwerlich einen Menschen erkannt.
    »Aus diesem Grund habe ich Sie hergebracht«, höre ich den Polizeiobermeister sagen. »Englische Hippies haben ihn gefunden, solche von der ungewaschenen Sorte, die sich hier in der Einöde einmieten, um ihre Joints zu drehen.«
    Die Gestalt ist vornübergestürzt, und das Gesicht hat sich in die Erde gebohrt. Nur die schwarzen, kurzgeschnittenen Haare sind zu erkennen, daraus schließe ich, daß es sich um einen Mann handeln muß. Ich blicke zum Berg hoch. Der ganze Abhang sieht aus, als sei er mit einem Messerschnitt fein säuberlich von der Bergspitze getrennt worden.
    »Wir haben ihn überhaupt nicht angefaßt«, fährt der Polizeiobermeister fort, stolz, daß er sich noch an einige Grundregeln aus der Polizeischule erinnert.
    »Auch wenn Sie ihn angefaßt hätten, hätte das nichts ausgemacht. Seine Stellung ist ohnehin verändert worden. Er wurde oben eingegraben, und die Leiche ist durch den Erdrutsch ans Tageslicht gekommen.«
    Ich hebe einen Ast auf und beginne die Leiche damit von Steinen und Erde zu befreien. Würmer werden dadurch aufgeschreckt, und eine Eidechse, ein weiteres Opfer des Erdrutsches, sucht sich eilig anderswo Unterschlupf.
    Der Polizeiobermeister steht neben mir und sieht mir über die Schulter. »Vielleicht war es ein Unfall, und wir haben Sie ganz umsonst herbemüht.«
    Nach und nach kommt der Körper eines Mannes zum Vorschein, nackt bis auf die Unterhose – keinerlei Kleidungsstücke weit und breit, nicht einmal Socken oder Schuhe.
    »Ein Unfall?« sage ich zum Polizeiobermeister. »Und was hat er mit seinen Kleidern gemacht? Hat er sie etwa ausgezogen, damit sie nicht zerknittern?«
    Er blickt mich an, als wäre ich Hercule Poirot mit dem martialischen Schnauzbart. »Deshalb habe ich Sie doch gerufen. Weil Sie von der Mordkommission sind und bei solchen Dingen Bescheid wissen. Wir hier auf der Insel sehen zum ersten Mal eine Leiche.«
    »Packen Sie mal mit an, damit wir ihn umdrehen können«, sage ich zum Wache schiebenden Polizisten. Er weicht einen Schritt zurück und wird bleich. Er sieht aus wie ein vergilbtes Baumblatt und beginnt am ganzen Leib zu zittern. »Packen Sie an, er tut Ihnen schon nichts. Er ist ja tot.«
    »Karambetsos!« erklingt die befehlende Stimme des Polizeiobermeisters, doch er selbst rührt die Leiche nicht an.
    Ich beuge mich hinunter und fasse den Toten an den Beinen, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich schaffe es, ihn aufzurichten, und warte auf den Polizeibeamten, der gegen seine Übelkeit ankämpft. Endlich gibt er sich einen Ruck und faßt den Toten mit spitzen Fingern an den Schultern an, während er den Kopf zur Seite dreht und seinen Blick auf das Meer heftet.
    Als wir ihn umdrehen, läuft eine Schar Ameisen und Ungeziefer aufgeschreckt durcheinander. Die Leiche plumpst mit einem dumpfen Geräusch auf den Rücken. Der Polizeibeamte läßt sie prompt los, rennt zum nächstgelegenen Baum und reibt seine Hände an der Rinde ab. Ich stehe über die Leiche gebeugt und mustere sie. Es handelt sich um einen jungen, ungefähr eins siebzig großen Mann. Seine Augen sind offen, und sein glasiger Blick ist auf die Sonne in der Ferne geheftet, als wundere er sich darüber, sie nochmals zu Gesicht zu bekommen. Seine Wangen sind halb verwest, ein Wurm ist in seinem Nasenloch zugange.
    Auf den ersten Blick kann ich keine Spuren von Gewaltanwendung feststellen, doch das ist nicht ausschlaggebend. Allein die Tatsache, daß er nackt ist, reicht aus, um mich davon zu überzeugen, daß es Mord war.
    Der Polizeiobermeister wendet sich um, verfällt in Trab und läuft zum Einsatzwagen. Er öffnet den Kofferraum und zieht ein weißes Bettlaken hervor. Er entfaltet es auf dem Weg zurück, bedeckt damit den Toten und atmet erleichtert auf.
    »Wie wollen wir ihn fortschaffen?« frage ich.
    »Ganz einfach. Ich schicke Thymios mit seinem Pritschenwagen vorbei, mit dem er Transportfahrten zum Hafen übernimmt. Viel schwieriger ist es, einen Ort zu finden, wo wir ihn Zwischenlagern können. Wir haben hier keine geeigneten Räumlichkeiten. Selbst das Bettlaken habe ich von zu Hause mitgebracht. Jetzt kann man es nicht mehr benutzen, und ich weiß nicht, wie ich das abrechnen soll.«
    Seine Buchhaltung läßt mich kalt. »Wer genau hat die Leiche gefunden?«
    »Sie wohnen dort drüben.« Der Polizeiobermeister deutet auf ein zweistöckiges Gästehaus, das zehn Meter vom Kieselstrand entfernt liegt. Im Erdgeschoß liegt eine Taverne. Das
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