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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter
Autoren: Petros Markaris
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ramponiert von der Decke. Ein Teil der Decke ist auf die Schrankvitrine herabgestürzt, und die Mauerstücke sind zwischen den Ausstellungsstücken gelandet. Nur der Fernseher ist unversehrt geblieben und starrt uns finster an. Eleni, meine Schwägerin, hält einen kleinen Besen in der Hand und säubert wortlos und mit verbissenem Eifer die bordeauxrote Sitzgarnitur, als wäre sie mitten im Weihnachtsputz.
    »Mensch, Mama, jetzt mach mal halblang«, sagt ihre Tochter. »Dein Sauberkeitsfimmel bringt dich noch um den Verstand.«
    Eleni wendet sich um und wirft ihrer Tochter einen Blick zu, als wolle sie ihr an die Gurgel springen. »Weißt du, wie viele Jahre ich mir diese Sitzgarnitur gewünscht habe? Und schau dir an, wie sie jetzt aussieht. Schau nur!« fährt sie ihre Tochter an, als wäre sie an dem Erdbeben schuld.
    »Eleni, laß das lieber bleiben, bis die Leute aus Athen hier gewesen sind«, meint ihr Mann kleinlaut, aus Angst, er könne sie damit noch mehr in Rage bringen. »Nicht, daß die unser Haus in schönster Ordnung vorfinden und uns die Zweihunderttausend Soforthilfe streichen.«
    »Ganz abgesehen davon, daß sie das Haus für unbewohnbar erklären könnten«, ergänzt die Tochter.
    Eleni blickt sie wild entschlossen an, als würde sie keinerlei Widerspruch dulden. »Ich weiche keinen Schritt aus meinem Haus. Und wenn es über mir zusammenstürzt.«
    Adriani tut das einzig Richtige in dieser Situation. Sie sagt gar nichts, sondern geht auf ihre Schwester zu und drückt sie an sich. Eleni legt ihre Arme um die Hüften ihrer Schwester, lehnt den Kopf an ihre Brust, ihr ganzer Trotz fällt in sich zusammen, und sie bricht in heftiges Schluchzen aus.
    Gerade als die beiden Schwestern einander zärtlich in den Armen liegen, taucht der Polizeiobermeister auf und unterbricht die rührselige Szene. Er steht in der Wohnzimmertür, hält seine Dienstmütze in der Hand und sieht mich betreten an.
    »Was gibt’s?« frage ich.
    »Entschuldigen Sie bitte, ich weiß, ich komme ungelegen aber könnten Sie kurz mitkommen?«
    »Jetzt sofort?«
    »Ja. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
    Er steckt mich mit seiner Verlegenheit an, und ich werfe Adriani, die Eleni immer noch im Arm hält, einen kurzen Blick zu. Sie nickt unmerklich und scheint dasselbe zu denken wie ich: daß es besser ist, wenn ich gehe, weil ich hier irgendwie nicht ins Bild passe.
    »Gehen wir«, sage ich zum Polizeiobermeister.
    Draußen wartet bereits das einzige Einsatzfahrzeug der Inselpolizei. Er setzt sich auf den Beifahrersitz und überläßt mir den Platz, der für offizielle Würdenträger reserviert ist – den Rücksitz, schräg hinter dem Fahrer.
    Wir nehmen die Strecke hinauf nach Palatini – ein Bergdorf, das in der einzigen landwirtschaftlich nutzbaren Gegend liegt. Die Straße ist schmal und gewunden, zwei Autos können gerade mal aneinander vorbeifahren.
    Der Regen hat die Landschaft blank geputzt. Unten breitet sich das Meer friedlich aus und umspült die kleinen Buchten, die Felsvorsprünge und Klippen der Insel. Nicht, daß ich eine besondere Liebe zur Natur hege. Als ich klein war, hing mir die Natureinsamkeit zum Hals raus, und ich zählte jedes Mal die Tage, bis wir nach Athen zurückfuhren. Doch dieser Anblick ist selbst für mich ein Erlebnis.
    Ich komme durch die Stimme des Polizeiobermeisters wieder zu mir. »Nicht genug mit dem ganzen Unglück, jetzt haben wir auch noch mit Erdrutschen zu kämpfen«, murmelt er.
    »Aus diesem Grund haben Sie mich hierhergebracht? Wegen eines Erdrutsches?«
    »Nein, nicht wegen eines Erdrutsches. Ich möchte Ihnen etwas anderes zeigen. Wir sind gleich da.«
    Ich bin drauf und dran, ihn zum Teufel zu schicken, denn seine Geheimniskrämerei beginnt mir auf den Senkel zu gehen. Doch der Streifenwagen biegt nach links ab und fährt eine kleine Schlucht zum Meer hinunter. Aus dem Wagenfenster sehe ich, daß sich die Anhöhe rechter Hand vom Berg gelöst hat, ganze Brocken hinabgestürzt und erst hundert Meter von der Bucht entfernt zum Stillstand gekommen sind.
    Am Rand des Hügels, der durch das Geröll und die Erdmassen entstanden ist, schiebt einer der beiden Polizeibeamten der Insel Wache. Der andere lenkt den Einsatzwagen und bringt ihn neben seinem Kollegen zum Stehen.
    »Kommen Sie«, sagt der Polizeiobermeister und führt mich zum Hügel.
    Beim zweiten Schritt halte ich inne. Inmitten der Erdreste ist ein dunkler Umriß zu erkennen. Hätte nicht der Kopf herausgeragt, hätte ich darin
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