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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter
Autoren: Petros Markaris
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und auf der Insel ist es stockdunkel. Hier neben mir steht der Bürgermeister Herr …« Sie hat seinen Namen vergessen.
    »Kalokyris …«, ergänzt der Bürgermeister.
    »… Herr Kalokyris, der uns eine genaue Beschreibung der herrschenden Lage auf der Insel geben wird. Wie stehen die Dinge zur Stunde, Herr Bürgermeister?«
    »Die Situation ist dramatisch, wie Sie schon sagten. Ein weiteres Mal sind wir mit der verbrecherischen Gleichgültigkeit des Staates konfrontiert. Vor geschlagenen fünf Stunden habe ich mit der Präfektur telefoniert, ich habe die Lage erläutert, und man hat mir Hilfe zugesagt, doch bislang ist sie nicht eingetroffen. Die Erdstöße gehen immer noch weiter, unsere Kinder stehen hilflos im Regen, weil wir uns nicht in unsere Häuser zurücktrauen … Krankheiten könnten sich verbreiten, Seuchen ausbrechen …«
    Ich sehe, wie die Einwohner nicken und zustimmend murmeln, und bewundere die kaltschnäuzige Unverfrorenheit, mit der er das Ruder herumreißen konnte. Sollte er in diesem Augenblick erneut kandidieren, bekäme er keine einzige Gegenstimme.
    »Ich appelliere über Ihren Sender an die zuständigen –«
    »Machen Sie nicht weiter, wir sind nicht mehr auf Sendung«, würgt ihn die Reporterin ab. »Machen wir uns auf die Socken, Jungs«, sagt sie zum Aufnahmeteam, das angefangen hat, seine Siebensachen zusammenzupacken und zum Hubschrauber zu laufen.
    »Vielen Dank«, sagt die Reporterin und läuft ebenfalls dorthin. Auf halbem Wege bleibt sie mit ihrem Stöckel hängen, ringt um ihr Gleichgewicht, entgeht um Haaresbreite einem Sturz in den Schlamm und erreicht den rettenden Hubschrauber. Bevor sie einsteigt, wendet sie sich halb um, als habe sie sich plötzlich an etwas erinnert.
    »Alles Gute«, ruft sie.
    »Warum wünscht sie uns alles Gute?« fragt ein junger Mann. »Hat hier vielleicht einer Geburtstag?«
    Das ist der beste Kommentar, den ich den ganzen Abend über gehört habe.

3
    G egen Mitternacht schließlich trafen die Zelte und Decken doch noch ein. Allerdings waren die meisten Einwohner der Insel schon bis auf die Haut durchnäßt und hätten Badetücher besser gebrauchen können. Der Bürgermeister schlug vor, sofort provisorische Unterkünfte aus Zeltplanen zu errichten, doch die Leute waren am Ende ihrer Kräfte und ihrer Geduld angelangt und meinten, er solle sie selber aufstellen, dafür hätten sie ihn ja schließlich zum Bürgermeister gewählt. Einige, die sich bereit erklärt hatten, mit anzupacken, klopften sich mit den Hämmern auf die Finger, da sie die Pflöcke im Dunkeln nicht erkennen konnten, und gaben schließlich auf. Zuletzt kauerten sich alle irgendwohin – die einen in ihre Wagen, die anderen wickelten sich in Wolldecken, und manche besonders Wagemutige meinten, es sei ohnehin alles egal, und kehrten in ihre Wohnhäuser zurück.
    Wir fanden in der Schmiedewerkstatt meines Schwagers Unterschlupf, zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter, der Familie seines Bruders und einer Schar Dorfbewohner, die er auf dem Marktplatz aufgelesen hatte. Das traute Beisammensein, die Gespräche und die Erinnerungen an das Erdbeben vertrieben den Schrecken der Nacht. Es fehlte nur noch das Halva, das meine Mutter immer zubereitete, wenn sie die Nachbarn zu einer Zusammenkunft einlud. Der einzige Muffel war Christos, der Bruder meines Schwagers, der ihm mit gedämpfter Stimme vorpredigte, daß ihm am nächsten Tag die Hälfte der Eisenstangen fehlen würde, weil die anderen sie mitgehen ließen, um ihre Häuser zu reparieren, und daß es immer so gewesen sei mit ihm, er sei immer bestohlen und reingelegt worden, während er, sein Bruder, gestern trotz des ganzen Aufruhrs keine einzige Limonade verschenkt hätte.
    Es ist jetzt zehn Uhr, und was die Nacht verhüllt hat, liegt im Morgenlicht offen zutage. Von außen besehen hat sich nichts verändert, der Hauptort ist so, wie er war. Nur in den Häusern hört man Wehklagen, Schluchzen und Stoßseufzer, zwar nicht im Chorgesang, doch vereinzelt wie Koloraturarien, weil eine Sachverständigenkommission eingetroffen ist und die Gebäude reihum besichtigt. Und das Wehgeschrei erhebt sich in den Wohnhäusern, die für unbewohnbar erklärt werden.
    Das Haus meiner Schwägerin sieht aus wie ein bosnisches Haus nach dem Bürgerkrieg. Der Verputz ist abgebröckelt, und die Ziegelsteine liegen nackt und bloß in der Sonne. Der mehrarmige Leuchter hat die Hälfte seines schmückenden Beiwerks verloren und baumelt schief und
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