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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter
Autoren: Petros Markaris
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hätten, können das Schild nicht lesen, da es mit griechischen Buchstaben geschrieben ist. Die Läden auf dem Marktplatz sind die einzigen, die bei dem Erdbeben keinen Schaden davongetragen haben, da sie eng aneinandergebaut sind. Ihr Zusammenhalt hat sie vor dem Schlimmsten bewahrt.
    Es sind drei Stunden vergangen, seitdem ich mit Adriani ins Freie gestürzt bin. Ich sitze auf dem Blaskapellenpodium, gegenüber der Souflaquerie. Das Schild kann ich nicht erkennen, weil es stockdunkel ist. Licht und Telefon sind ausgefallen. Aus den Transistorradios erfahren wir, daß sich das Epizentrum in der Gegend von Kreta befand und das Erdbeben die Stärke von 5,8 Grad auf der Richter-Skala erreicht hat. In den vergangenen drei Stunden haben die Inselbewohner siebenunddreißig Erdstöße gezählt, doch um den letzten ist ein heftiger Streit ausgebrochen. Die eine Hälfte der Insulaner behauptet, er müsse mitgezählt werden, während die andere Hälfte meint, er bilde bloß eine kleine Draufgabe zur vorletzten Erschütterung. Sie reden sich also die Köpfe heiß, um nur ja keine Möglichkeit ungenutzt zu lassen, sich in ihrem Unglück zu suhlen.
    »Beim Erdbeben von Kalamata wurden innerhalb von drei Stunden zweiundfünfzig Erdstöße gezählt«, sagt einer, der neben mir auf dem Gehsteig sitzt, als wäre er traurig darüber, daß seine Insel nicht in Führung liegt.
    Der ganze Ort hat sich auf dem Marktplatz versammelt. Etliche sitzen auf den Stühlen der Taverne oder des geschlossenen Biergartens, andere im Kafenion des Bruders meines Schwagers, das geöffnet hat und Limonade, Coca-Cola und Eiskaffee ausschenkt. Wer sich keinen Sitzplatz in den Lokalen sichern konnte, spaziert zwischen den umhertollenden, Ball spielenden Kindern über den Platz. Der Krach ist ohrenbetäubend, da nicht nur die Kinder kreischen, sondern sich auch die Erwachsenen lautstark vom Kafenion quer über den Platz, vom Platz zur Taverne und von der Taverne in den Biergarten hinüber unterhalten. Nur in den beiden Souflakibuden klingelt die Kasse. Die Kinder sind hungrig, und es gibt sonst nirgendwo etwas zu essen. Die Souflakibuden haben Holzkohle zum Glühen gebracht und brutzeln eifrig Fleischspießchen, die sie mit einer Scheibe Landbrot verteilen. Zum Schluß geht ihnen das Brot aus, und sie servieren das Fleisch ohne Beilage. Nur das Holzkohlenfeuer erhellt den Marktplatz.
    Die wenigen Touristen, die im September noch übriggeblieben sind, wurden vom Marktplatz verdrängt und haben sich zur Bushaltestelle geflüchtet. Liebend gerne würden sie abreisen, doch der dort abgestellte Bus wagt nicht loszufahren, und sie trauen sich nicht, in die Häuser zurückzukehren und ihre Sachen zu holen. Einige haben sich vor den Souflakibuden angestellt, doch sie kommen nicht zum Zuge, weil die Einheimischen sich ständig vordrängeln.
    Es wird immer später, und die Erdstöße wollen nicht enden, da lähmt die Angst schließlich auch die Schreihälse, und der Lärm ebbt ab. Als wäre das alles nicht schon Unglück genug, setzt auch noch ein dünner Nieselregen ein, der neues Protestgeschrei hervorruft. Der Kombi der Stromgesellschaft fährt zum vierten Mal mit quietschenden Reifen vorbei und hupt wie wild, um die Leute von der Straße zu scheuchen.
    »He, Lambros, was ist? Wann haben wir wieder Strom?« fragt der Mann neben mir den Beifahrer des Wagens.
    »Stell dich lieber auf eine längere Wartezeit ein. Das Kabel ist beschädigt, und das kann dauern«, entgegnet der andere, zufrieden, daß diesmal der Strom mit gutem Grund ausfiel und nicht wie sonst zweimal täglich ohne ersichtlichen Anlaß.
    »Schämt ihr euch denn gar nicht, ihr Schmarotzer!« ruft mein Nachbar hinter dem Wagen her.
    Er würde gerne weiterschimpfen, doch eine heftige Erschütterung bringt ihn aus dem Gleichgewicht, und er rutscht vom Gehsteig. Ein Gezeter unterschiedlichster Stimmlagen erhebt sich über dem Marktplatz. Es reicht vom »Hoppla, schon wieder!« der Mutigsten bis zum hysterischen Gekreische der Frauen.
    »Ach, da bist du ja! Wir suchen dich schon auf dem ganzen Marktplatz«, höre ich Adrianis Stimme neben mir.
    Sie ist in Begleitung von Eleni, ihrer Schwester, und Aspa, Elenis Tochter, die in die dritte Klasse des Gymnasiums geht und ein besonnenes, aufgewecktes Mädchen und das sympathischste Mitglied der Familie meiner Schwägerin ist.
    »Ist alles in Ordnung?« frage ich Eleni, mehr aus Pflichtbewußtsein als aus echter Sorge, da ich ja sehe, daß mit ihr alles in
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