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Nachtbrenner

Nachtbrenner

Titel: Nachtbrenner
Autoren: Myra Çakan
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Kleider auszuziehen – viel nasser konnte er sowieso nicht mehr werden –, rutschte er in das trübe Wasser. Es war tiefer als er dachte, doch Suki hatte ihn in jenem Sommer auch schwimmen gelehrt.
    Als er an der Stelle angelangt war, holte er tief Luft und tauchte hinab. Eigenartig, er konnte hier unten genauso viel oder wenig wie an der Oberfläche erkennen. Es war ein Auto. Für einen Augenblick verließ ihn der Mut, wollte er wieder nach oben, fürchtete, ein Skelett hinter dem Steuer sitzen zu sehen, glaubte es zu sehen, doch es war nur seine Einbildung. Der Wagen war leer, bis auf einen länglichen Gegenstand auf dem Rücksitz. Ein Gitarrenkasten? Er stemmte sich gegen die Hintertür, als ihm die Luft knapp wurde: auftauchen, einatmen und wieder nach unten. Die Tür war verklemmt, widersetzte sich seinen Anstrengungen. Auftauchen, einatmen, abtauchen, die Scheibe eintreten, den Kasten greifen.
    Wieder auftauchen, doch das Gewicht schien den Jungen nach unten zu ziehen. So musste es sein, einen großen Fisch zu fangen und an Land zu bringen. Endlich kam er pustend und schnaufend an die Oberfläche. Der Nebel hatte inzwischen erneut zugenommen. Würde er die Orientierung verlieren und auf das falsche Ufer zuhalten?
    Da hörte er die Stimmen und Geräusche, lauter diesmal, näher. Plötzlich konnte er auch die Richtung ausmachen, die Gegend hinter den Baracken und den großen Plätzen, dort wo Blues in seinem Truck lebte.
    Neil kroch keuchend die Uferbefestigung hoch, den kostbaren Kasten umklammert. Er schüttelte sich das Wasser aus den triefenden Kleidern, wie ein Hund aus seinem Fell, dann erst warf er einen längeren Blick auf seinen Fund. Schlamm und Algen bedeckten ihn. Der Junge fuhr mit der Hand über die Oberfläche, fühlte eingestanzte Schrift. Hastig rieb er mit dem Ellenbogen, bis die Buchstaben sichtbar wurden: »F n er.«
    Oh, er hatte es gewusst, seit dem Tag, an dem er Blues erste Erzählung hörte. »Fender«, es war Chips Gitarre, die berühmte Telecaster, er hatte sie gefunden.
    Es dauerte eine Weile, bis ihm die plötzliche Stille bewusst wurde. Hastig stand er auf, schnappte sich den Kasten und rannte los, so schnell er nur konnte.
    Auf dem großen Parkplatz war alles ruhig, zu ruhig. Wo steckten die anderen Tramps, die seit der Regenzeit unter einem improvisierten Zelt im Windschatten der umgekippten Reklamewand saßen? Und wo war sein alter Freund?
    Der Kasten wurde schwer in seiner Hand, er setzte sich auf einen Autoreifen. Es hatte zu regnen aufgehört, Pfützen schimmerten auf dem Asphalt wie kleine Spiegel, reflektierten die zersplitterte Windschutzscheibe des Pickup-Trucks.
    Da war noch etwas, direkt vor seinen Füßen, der Junge bückte sich. Blues’ Mundharmonika. Seine schlimmsten Befürchtungen manifestierten sich in dem Instrument – freiwillig wäre sein Freund keine drei Schritte ohne seine Blues-Harp gegangen.
    Also stimmten die Gerüchte. Die Wohlfahrt hatte die Tramps eingesammelt und in ihre Lager geschafft. Lager gab es viele, über das ganze Land verteilt, nur die Namen waren immer anders – Waisenhaus, Verwahranstalt, Notunterkunft. Und irgendwo steckte auch sein Freund. Neil war ratlos, war der halbwüchsige Junge, der er nie sein konnte, der zu sein er sich nie gestattet hatte.
    Er ging zu seinem Schlafplatz. Seine Sachen waren unberührt geblieben, zu wertlos in den Augen derer, die Blechnäpfe mit Suppe für die Rettung in einer aussichtslosen Lage hielten.
    Also ist es wieder an der Zeit, zu packen, dachte der Junge, aber diesmal würde er nicht alleine gehen. Er öffnete den schweren Kasten, helles Holz auf blauem Samt. Die Jahre hatten dem Instrument nicht geschadet, nur die Metallsaiten waren korrodiert.
    Sein Finger fuhr über die Bünde, die zwei Pickups und den berühmten Schriftzug, dann hob er die Gitarre aus dem Koffer. Ein buntes, gewebtes Band, blau mit weißen Vögeln, war an zwei Enden befestigt. Am besten wäre es vermutlich, die kostbare E-Gitarre in ihrem Behältnis zu lassen, auf der Straße blieb man aber besser beweglich. Achselzuckend schlang er sich den Tragriemen um, sodass die Telecaster auf seinem Rücken hing. Den Koffer stopfte er mit seinen Decken voll, so war er nicht mehr zu schwer, um ihn auf längere Strecken zu tragen, und er ließ nichts gut Gearbeitetes zurück. Mit einem letzten Blick nahm er Abschied von dem Ort, an dem er nur einen Sommer verbracht, der sein Leben aber mehr verändert hatte, als all die davorliegenden Jahre.
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