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Nachtbrenner

Nachtbrenner

Titel: Nachtbrenner
Autoren: Myra Çakan
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hätte, diese Telecaster von Chip, dann würde alles wie von selbst gehen.
    »Und dann seid ihr drüben, auf der anderen Seite, im ›wah wah‹ aufgetreten?«
    Der Schwarze nickt abwesend, er steht jetzt wieder auf der kleinen Bühne in dem vollen Club, riecht das Gras und schmeckt das Bier, hört das Trampeln und Pfeifen der paar hundert Fans.
    »Das ist es, Mann, sagte Chip an diesem Abend, das ist wie Zeitreisen, wie ein Flug zu den Sternen. Waren ganz schön stoned an diesem Abend, wir alle. Irgendwie war’s ’ne merkwürdige Stimmung, als würde was in der Luft liegen.« Er schüttelt in der Erinnerung daran mit dem Kopf, versteht es immer noch nicht so ganz. »Als er dann sein erstes Solo spielte, da wusste ich es irgendwie, wussten wir es alle, so würde er nie wieder spielen, so spielt man nur einmal im Leben.«
    Neil hält den Atem an. Jetzt endlich erfuhr er die ganze Geschichte, das Unausgesprochene, das Rätsel jener Nacht.
    »Die Fans wussten es auch, sie spürten die Magie«, fährt Blues mit seinem Bericht fort. »Und am nächsten Morgen erfuhren wir dann, dass alles vorbei war. Ich weiß es noch, als wär’s erst gestern gewesen. Scobie, der Roadmanager, klopfte mich morgens um halb sechs raus, ich war gerade eingeschlafen. Chip ist weg, sagte er nur. Die drei Worte, die vergess ich nie, drei Worte, die einem Weltuntergang gleichkamen.«
    »Was ist passiert, Blues?«
    »Weiß niemand genau, es scheint als wäre er zu schnell gefahren, von der Spur abgekommen, auf der Brücke, durch die Brüstung gebrochen und in den Fluss gestürzt. Haben Taucher runtergschickt, doch die haben nichts gefunden.«
    »Die Brücke, von der nur noch die Stützpfeiler stehen?«
    »Gab nur eine Autobrücke über den Fluss, Junge.« Er klingt müde, steht auf und läuft ein paar Schritte, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. »Schätze, ich geh runter ins Zentrum, mal sehen, ob es Neuigkeiten gibt.«
    »Sei vorsichtig, dass sie dich nicht einkassieren, bist nicht mehr flink genug, um wegzulaufen«, warnt ihn der Junge. Und ohne den Grund zu kennen, fragt er: »Was ist in der verbotenen Zone?«
    »’ne verdammt gute Frage, Junge, aber ich weiß die Antwort auch nicht, kann nur raten – die Vergangenheit? Gut möglich, vielleicht aber auch die Zukunft. Schätze, ich werd’s wohl nicht mehr rausfinden.«

    Die Regenzeit war früh gekommen, dieses Jahr. Tropfnass stand Neil in dem zerfallenen Güterwaggondepot, und da war sie, die Antwort auf seine Botschaft, mit Holzkohle auf einen der umgestürzten Waggons geschrieben. Er atmete auf, seine alten Freunde hießen ihn Willkommen, jederzeit, gaben ihm ein gutes Gefühl von Sicherheit.
    Im Sommer hatte Blues von harten Zeiten gesprochen, doch unter blauem, warmen Himmel schien alles so endlos entfernt, so sorglos.
    Erneut wollte er einen Abstecher ans andere Ufer unternehmen. Ihre Vorräte waren so gut wie aufgebraucht, und wollten sie nicht aufgeben und zur Wohlfahrt gehen, musste er etwas organisieren, auf welche Art auch immer.
    Dichter Nebel versperrte den Blick über den Fluss, der soviel Wasser führte, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Vor ein paar Tagen hatte Blues ihn bis zur eingestürzten Brücke begleitet, seitdem sprach er viel mehr als sonst von vergangenen Zeiten. Davon, wie mit Chips Verschwinden alles auseinanderbrach, sich die Bandmitglieder aus den Augen verloren und er nur noch durch zweit- und drittklassige Bars tingelte, bis er nichts als ein alter Harmonikaspieler war, den keiner mehr kannte. Und irgendwann wollte niemand mehr Musik hören, dachte jeder nur noch an die nächste Mahlzeit, den nächsten Tag, ans Überleben.
    Neil schlitterte die Böschung runter. Er hörte Geräusche, Stimmen, doch der Nebel verzerrte, täuschte, er konnte nicht sagen, ob sie aus der Stadt oder über den Fluss kamen. Doch er musste einfach riskieren, über die Eisenbahnbrücke zu laufen; unmöglich festzustellen, wie tief das Wasser war.
    Er war schon fast wieder das Ufer hochgeklettert, als sich die Sicht besserte, sein Blick fiel auf einen dunklen Fleck, ungefähr in der Mitte des Flussbettes. Er überlegte, konnte da eine Sandbank gewesen sein? Die Landschaft hatte sich so schnell verändert, dass er seiner Erinnerung nicht mehr traute. Fast sah es aus, als wäre es – ja, es hatte die Form eines Autos, einer Limousine, wie Blues gesagt hätte. Ein Auto, wie es dieser Chip gefahren hatte, in jener Nacht.
    Er überlegte nicht mehr lange. Ohne seine
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