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Nachtbrenner

Nachtbrenner

Titel: Nachtbrenner
Autoren: Myra Çakan
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Horizont.
    Er machte sich nie viel Gedanken über die ehemaligen Besitzer der Fundstücke. Es war der Wert, den sie als Tauschobjekte hatten, der zählte.
    »Huckleberry Finn«, sagte sie, »kennst du das Buch?«
    »Du kannst das lesen?« fragte er ungläubig.
    »Sicher, du etwa nicht?« Als wär’s die selbstverständlichste Sache auf der Welt.
    Ihm kam ein unglaublicher Gedanke. »Ihr Hobos, könnt ihr etwa alle lesen?«
    »Natürlich. Ich bring’s dir bei, wenn du willst.«
    »Aber Marty sagt, wir erreichen bald die Küste –«
    »Bis dahin kannst du soviel, dass du alleine lernen kannst«, versprach das Mädchen.

    Neil hörte ihre Stimme noch wie ein fernes Echo. Hier war es gewesen, wo sie sich getrennt hatten. Der Indianer hatte ihm die bunte Feder aus seinem Haar geschenkt, Marty schlug ihm auf den Rücken und wünschte ihm Glück, und Bohne gab ihm die Münze, die er immer an einem Band um den Hals getragen hatte, als Glücksbringer, wie er sagte.
    »Du kannst zu uns kommen, wenn du willst, Junge«, hatte Leila gesagt. »Lass nur eine Botschaft hier, bei unseren Freunden, und sie werden dir den Weg zeigen.« Sie kniete sich in den Staub und schrieb ein paar Linien auf den Boden. »Das Zeichen, vergiss es nicht.«
    »Vergiss mich nicht«, sagte Suki. Ihre Lippen streiften seinen Mund. Dann lachte sie über sein verblüfftes Gesicht. Und auch ihr Lachen war wie ein Echo aus der Vergangenheit.
    Ja, hier war es gewesen. Er sah sich um, doch nichts deutete auf die Anwesenheit von Hobos hin, keine Feuerstelle, keine verwehten Aschereste, keine geheimnisvollen Botschaften. Er trat gegen einen umgestürzten Waggon, hohl wurde das Geräusch von den hohen Betonwänden zurückgeworfen. Für Neil war der verlassene Bahnhof immer so eine Art Museum gewesen, irgendjemand hatte, vor langer Zeit, die Mauern mit Bildern versehen. Brutale, romantische und packende Bilder in leuchtenden Farben, die in den Jahren nichts von ihrer Leuchtkraft und Anziehung verloren hatten. Die Bilder waren wie die Bücher, die Suki ihn zu lesen gelehrt hatte, oder die Geschichten des alten Blues: sie erzählten von einer anderen Welt. Und sie waren wie Musik.
    Neil sah zum Himmel, die Sonne stand schon tief. Seltsam, wie die Stunden vergingen, wenn man an ferne Freunde dachte. Am besten versuchte er sein Glück am anderen Ufer, dort sollte es noch einige unentdeckte Vorratskeller geben. Obwohl er den Gerüchten nur selten Glauben schenkte, konnte es nie schaden, die Sache selbst in Augenschein zu nehmen. Nach jeder Regenzeit stürzte ein weiterer Teil der noch erhaltenen Häuser ein, und wertvolle Dinge mochten verschüttet werden. Solange er für sich selber sorgen konnte, war er sicher vor den Schlafbaracken und Suppenküchen der Wohlfahrt. Aber er hatte auch die Verantwortung für seinen Freund. Noch war Blues nicht auf Hilfe angewiesen, doch wenn der Tag kam, hatte er als Einziger das Recht, ihm diese Hilfe zu gewähren, ein Recht, welches nur die Freundschaft gab.
    Vorsichtig bewegte er sich aus der Deckung der Bahnhofsmauern. In den letzten Wochen trieb sich allerhand Gesindel am anderen Ufer rum, Blues hatte ihn gewarnt. Neil hatte sich oft gefragt, woher der Alte seine Informationen bekam. Vielleicht von den Leuten, die er immer Bruder oder Schwester nannte, es war wohl ihre Hautfarbe, die sie zu einer Familie machten; eigenartig.
    Doch auch er wusste von Neuigkeiten, die seit einigen Wochen die Runde unter den freien Tramps machten, beunruhigende Veränderungen erwarteten sie alle, falls die Nachrichten stimmten. Die Erfahrung hatte jedoch gezeigt, unerfreuliche Gerüchte entsprachen meistens der Wahrheit.
    Neil überlegte, ob er seinem Freund von dem Gerede berichten sollte. Vielleicht wollte er es nur tun, damit ihn der Schwarze beruhigte. Besser die Augen aufhalten und abwarten, ohne unvorbereitet zu sein.
    Die lange Autobrücke über den ausgetrockneten Fluss war schon lange eingestürzt, nur die Betonpfeiler ragten wie abgebrochene Zähne in den blauen Himmel. Blues hatte schon hier gelebt, als der Fluss noch das ganze Jahr über Wasser führte. Jetzt war er nicht mal zur Regenzeit viel mehr als ein kümmerliches, verschlammtes Rinnsal.
    Drüben, auf der anderen Seite, hatte die Band ihr letztes Konzert gegeben, in diesem Club, dem »wah-wah«. Wäre es nicht wie ein Zeichen, wenn er das Gebäude finden würde und dem alten Musiker irgendetwas mitbrächte, eine Art Beweis, wie die alte Telecaster von diesem Chip, der diesen
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