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Nachtbrenner

Nachtbrenner

Titel: Nachtbrenner
Autoren: Myra Çakan
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einfach, Junge, wir packten es. Unsere erste LP machte über eine Million, und ›Run With the Devil‹ kam unter die ersten zehn. Chip hatte den Song geschrieben, schrieb jetzt alle unsere Songs, konnte nicht nur höllisch gut spielen, war wirklich ein Genie, der Junge.«
    Seufzend stand der alte Mann auf, und ging steifbeinig hinter eine umgekippte Reklamewand. Neil hob die leere Bierdose auf und flippte sie über den rissigen Asphalt des Parkplatzes wie einen flachen Kiesel über die Wellen der See. Für heute hatte der alte Blues genug in seinen Erinnerungen gekramt. Jetzt würde er bis zum Abend in seinem Truck ein kleines Schläfchen halten und erst nach Sonnenuntergang wieder auftauchen.
    Die Sonne machte ihn träge, bald würde er seine Tage wie alle Bewohner dieser Stadt verbringen und dösend auf die Abendkühle warten, um sich dann in die Warteschlange vor der Suppenküche einzureihen, zwei Näpfe in der Hand, einen für sich, den anderen für Blues. Und wenn dann die Regenzeit kam, stünde er immer noch in der Schlange, einen Karton für Brennmaterial unter dem Arm. Oder er würde in einer der Schlafbaracken unterkriechen und auf bessere Zeiten warten, wie der Rest der Welt. Während der Regen auf das Blechdach trommelte, den gleichen Rhythmus, den seine rastlosen Füße immer auf der endlosen Landstraße gemacht hatten. Und die Erinnerungen in seinem Kopf wären nicht seine eigenen, sondern nur Echos seiner Träume.

    Entschlossen stand Neil auf. Nein, er wollte seine Träume nicht für eine sichere und trostlose Zukunft im Obdachlosenasyl begraben. Er hatte die Schrift an der Wand gesehen, an der grauschimmeligen Wand des Waisenhauses, oben im Norden, wo er aufgewachsen war. Er hatte sich nicht umsonst auf die lange Reise begeben.
    Er überlegte, die Strecke am Coconut Grove war eine Enttäuschung gewesen, vor drei Wochen noch ein Geheimtipp, und jetzt nur noch gut für ein vergessenes Streichholzheftchen aus einem Handschuhfach. Es stimmte wirklich, was der alte Blues sagte, es waren harte Zeiten.
    Harte und gefährliche Zeiten. Ein Junge musste flink sein, wollte er überleben, unsichtbar und schlau. Und er brauchte einen Freund. Sicher, Blues war alt und fast blind, doch er kannte alle Tricks und konnte ihm eine Menge beibringen. Da war es doch nur fair, wenn er für ihn organisieren ging.
    Unbewusst tastete er nach der gefüllten Feldflasche, die bei jedem Schritt leicht gegen seine Hüfte schlug. Ihr Gewicht gab ihm ein gutes, sicheres Gefühl, genauso wie das alte Armeemesser, das er an einer Schnur um seinen Hals trug. Diese Gegenstände unterschieden ihn von den anderen Tramps, gaben ihm eine Art von Selbstbewusstsein, das schon seine Vorfahren besessen hatten, als sie nach Westen gezogen waren.
    Doch von diesen Dingen wusste Neil nichts. Seine Vergangenheit war das Waisenhaus, seine Schule die Landstraße und seine Zukunft der Traum eines alten Rockmusikers.
    Er verfiel in einen leichten, ausdauernden Trab und lief hinunter zu den rostigen Gleisen der ›Union Pacific‹. Niemand hatte Verwendung für die Schienen gehabt, nur die morschen, moosbewachsenen Holzbohlen waren großteils von den Mitgliedern der Hobo-Familien für Feuerholz herausgerissen worden.
    Neil hatte die geheimnisvollen Hobos auf seiner Reise zur Küste getroffen. Abends an ihren Feuern gesessen und ihren Geschichten zugehört, die von schnellen Zügen, weitem, offenen Land erzählten, von endlosen Güterwaggons, dem monotonen Rhythmus der Räder und dem magischen Pfeifen der Lokomotive in der Nacht. Worte wie Stellwerk, Tender oder Rangierbahnhof klangen wie eine besondere Sprache, die der Junge mit lautlosen Lippen vor sich hersagte, während er auf verbogenen Schienen balancierte. Sie waren wie ein Zug, der in die Vergangenheit fuhr, immer schneller über die Gleise rumpelte, ihn hypnotisierte.

    Es war Winter gewesen, oben in der kleinen Stadt an der Grenze zu Kanada. Ein harter Winter, wie die Leute in endloser Litanei immer und immer aufsagten, so als hofften sie, dass ihnen irgendjemand widersprechen würde.
    Der Schnee türmte sich so hoch, dass es im Untergeschoss des Waisenhauses selbst zur Mittagszeit nicht hell wurde. Für Neil hatten diese Wintermonate im Halbdunkel etwas Unwirkliches. Alles war gedämpft, wie durch eine dichte Decke, doch die Decke wärmte nicht.
    Der Junge hatte seine Flucht in den letzten Sommertagen vorbereitet. Es war ihm gelungen, auf dem Schwarzmarkt eine Feldflasche und ein
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