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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge
Autoren: Titus Müller
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diesem Wagen.
    »Ich höre sie«, raunte er. »Laut und deutlich.«
    Abrupt endete der Ton. Es war still in der Leitung.
    »Team zwei hat nichts mehr«, sagte der Funker. »Team drei auch nicht.«
    Er hob die Hand, um alle zum Schweigen zu bringen, und lauschte angestrengt. Stille. »Verflucht.« Er riss sich die Kopfhörer herunter. »Was haben wir?«
    Der Funker reichte ihm die Karte nach vorn. Er hatte ein neues, wesentlich kleineres Peildreieck eingezeichnet, es umfasste nur wenige Häuserblocks. Hätte die Spionin ein paar Minuten länger gesendet, er hätte Haus für Haus den Strom abstellen lassen können, um ihr genaues Versteck zu lokalisieren – wenn beim Abschalten des Stroms plötzlich der Funkkontakt abbrach, wusste man, es war das richtige Haus. »Hat jemand eine Waffe für mich?«
    Der Fahrer reichte ihm eine Smith & Wesson. »Was haben Sie vor?«
    Er steckte sich den Revolver in den Hosenbund und befahl: »Fahren Sie zurück nach Wormwood Scrubs. Und sagen Sie den anderen Teams, sie sollen sich ebenso zurückziehen.«
    Der Funker runzelte die Stirn. »Wir sollen die heiße Spur einfach so fallen lassen? Sie ist hier, sie ist ganz in der Nähe!«
    »Diese Frau ist nicht dumm«, gab er zurück. »Sie ist aufmerksam. Wenn dasselbe Auto zweimal an ihrem Fenster vorüberfährt, taucht sie unter und ist wieder monatelang verschwunden. Sie hat gut vorbereitete Fluchtwege, da bin ich mir sicher. Noch weiß sie nicht, dass wir ihr auf den Fersen sind. Vielleicht verschafft mir das eine Chance.« Er wies nach vorne. »Halten Sie neben diesem Lastwagen und lassen Sie mich raus. Ich sehe mich zu Fuß nach ihr um.«
    Der Wagen hielt, und Eric stieg aus. Er schlug die Wagentür zu und marschierte die Straße entlang.
    Was tust du jetzt, Nachtauge?, dachte er. Du hast deinen Funkspruch abgesetzt. In den Luftschutzkeller kannst du nicht gehen, sonst fällt auf, dass du erst eintriffst, nach dem der Bombenalarm bereits eine Dreiviertelstunde läuft. Du bleibst also in der Wohnung und wartest auf die Ent warnung. Wundern sich deine Nachbarn, dass du nicht im Luftschutzkeller warst? Nein, denn du gehst nie in den Luftschutzkeller. Sie halten dich für eine von diesen Luftschutzverweigerinnen, die gibt es ja zur Genüge in London, Leute, die in ihren Betten ausharren, die sich sagen: Bei einem Volltreffer stirbt man auch im Keller, dann bleibe ich gleich im Bett, falls es unser Haus erwischt, sterbe ich hier, und falls nicht, habe ich mir etliche Nachtstunden in einem kalten Loch erspart.
    Das Dröhnen der Bomber verebbte, sie zogen ab. Sirenen ließen den Entwarnungston aufheulen. Bald darauf gingen in den Häusern die ersten Lichter an, helle Schlitze zeigten sich an den Rändern der Verdunkelungsrollos.
    Eric hörte das Quietschen der schweren Eisentüren in den Kellern und Schritte in den Treppenhäusern. Er trat an den nächsten Hauseingang und klopfte. Eine Frau mit Kopftuch öffnete. »Ja?«, fragte sie schüchtern.
    »Grimmond mein Name, Luftschutz«, sagte er. »Waren alle Anwohner wie vorgeschrieben im Luftschutzkeller?«
    Sie bejahte.
    Dieses Frage-und-Antwort-Spiel wiederholte sich an den nächsten Türen. Die polnischen und französischen Einwan derer logen ihm glatt ins Gesicht, um ihre Landsleute zu schützen. So kam er nicht weiter. Er änderte seine Taktik. An der nächsten Tür tat er besorgt. »Grimmond, Luftschutz. Wird bei Ihnen jemand vermisst? Oder waren Sie im Keller vollzählig?«
    »Der alte Victor geht nie in den Keller«, antwortete eine junge Frau mit osteuropäischem Akzent. »Aber sicher geht es ihm gut, er ist oben in der Wohnung, denke ich.«
    »Freut mich, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist.« Er verabschiedete sich. So funktionierte es. Jetzt hörte er die Ge schichten der Leute. Bald hatte er die Häuserreihe abgearbeitet und wechselte auf die gegenüberliegende Straßenseite.
    Im ersten Haus hörte ihn niemand. Im zweiten öffnete eine Britin, sie trug einen abgewetzten Wintermantel und Hausschuhe. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Ihre Locken waren platt gedrückt, offenbar war sie schon im Bett gewesen, als der Luftalarm ertönte.
    »Grimmond, Luftschutz. Wird bei Ihnen jemand vermisst? Oder waren Sie im Keller vollzählig?«
    Erschrocken trat sie aus dem Haus und sah zum Dach hinauf. »Brennt das Haus? Sind wir getroffen?«
    »Nein. Aber eine Sprengbombe ist in Ihrer Straße gelandet. Wir haben zwei Tote und können sie nicht identifizieren.«
    »O Gott. Das wird doch nicht Julia
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