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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge
Autoren: Titus Müller
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gewesen sein?« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Ich hab ihr immer wieder gesagt, sie soll vernünftig sein und mit runter in den Luftschutzkeller kommen, sie soll froh sein, dass sie so einen kurzen Weg hat, viele Häuser haben gar keinen Luftschutzkeller, da müssen die Leute viel weiter laufen, aber nein, wie die jungen Leute sind, sie hat fest daran geglaubt, dass es sie nicht treffen wird.«
    »Wie lange wohnt sie schon hier?«
    »Ein knappes Jahr. Warum?«
    Womöglich war sie das. Er tastete heimlich nach dem Revolver im Hosenbund. »Sehen wir am besten nach. Vielleicht ist sie ja zu Hause und wohlauf.«
    Die Wirtin ging ihm voran die Treppe hinauf. Sein Herz schlug schneller. Sie hat bereits zwei Agenten umgebracht, warnte ihn eine innere Stimme. Aber er durfte Nachtauge nicht wieder entwischen lassen, die Chance war einmalig, es war Zeit, dass sie zur Strecke gebracht wurde.
    Die Wirtin klingelte an einer Tür im zweiten Stockwerk. »Julia, Kind, sind Sie da?«, rief sie.
    Er zog die Waffe und entsicherte sie leise, während er sie hinter dem Rücken versteckt hielt.
    Die Wirtin sagte in übertrieben freundlichem Ton: »Wir wollen nur sichergehen, dass dir nichts zugestoßen ist.«
    Nichts geschah.
    »Treten Sie beiseite«, sagte er. Er sicherte die Waffe wieder und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Die alte Dame sah ihn verständnislos an, wich aber zögernd zurück. Er hatte keine Zeit für Erklärungen, nahm Anlauf und warf sich gegen die Tür. Das Holz des Rahmens brach, und er stolperte in die fremde Wohnung. Sofort warf er sich nieder auf die Knie. Er streckte die Hand mit der Waffe vor sich aus und blickte sich hastig um. Die Wohnung war dunkel, vom Treppenflur fiel etwas Licht hinein. »Schalten Sie das Licht ein«, befahl er. »Der Lichtschalter befindet sich neben der Tür.«
    Die Wirtin, bleich im Gesicht, gehorchte mechanisch. »Was tun Sie da?«, hauchte sie fassungslos.
    Er nahm Deckung an der Wand. Vorsichtig spähte er in das erste Zimmer. Ein Bett und ein Kleiderschrank waren darin. Das Bett war ordentlich mit einer Tagesdecke überzogen.
    Er schlich weiter zur nächsten Tür. Gasherd, Tisch, Anrichte. Ein Marmeladenglas stand noch offen da, auf einem Brett lag ein großes Messer neben einem Laib Weizenbrot.
    Das Wohnzimmer war ebenfalls verwaist. Das Verdunke lungsrollo war vorschriftsgemäß nach unten gezogen. Er richtete sich langsam auf, während er sich umsah. »Scheint so, als wäre sie nicht zu Hause.« Vielleicht funkte sie nicht von hier aus. »Wo ist die Toilette?«
    »Auf halber Treppe. Miss Julia teilt sie sich mit der Familie gegenüber.«
    »Gibt es einen Dachboden?«
    »Warum fragen Sie?«
    »Ich arbeite für die Spionageabwehr des MI 5, des britischen Inlandsgeheimdienstes. Wir suchen nach einer Deutschen, die noch vor wenigen Minuten im Funkkontakt mit ihrem Führungsoffizier stand.«
    Die Wirtin fasste sich in die platt gelegenen Locken. »Sie meinen, Julia …? Du meine Güte.«
    »Ist der Dachboden abgeschlossen?«
    »Nein. Das dürfen wir doch nicht, wegen der Brandbomben. Er muss immer zugänglich sein, damit man ein Feuer löschen kann.«
    »Bleiben Sie besser hier.« Er verließ die Wohnung und stieg die Treppen hinauf. Nachtauge hatte keinen Respekt vor einem Menschenleben, sie würde ihn, ohne zu zögern, töten. Die Agentin hatte in den ersten Jahren in Großbritannien mehrere Anschläge auf Züge verübt. Er selbst hatte den Ort des Anschlags untersucht und Beweisstücke nach Wormwood Scrubs gebracht, kümmerliche Reste der Corned-Beef-Dosen, in denen der Sprengstoff gewesen war – wegen ihrer eckigen Form gut geeignet für Schienensprengungen. Untersuchungen der Asche hatten zutage gebracht, dass Nachtauge den Sprengsatz selbst hergestellt hatte, aus handelsüblichen Zutaten, die es in jeder Apotheke gab. Hatte sie sich auch die verbogenen Waggons angesehen, die Leichensäcke der Kinder, die zur Landverschickung im Zug gewesen waren? Wie schaffte sie es, gänzlich davon unberührt zu bleiben?
    Er drückte sich neben der hölzernen Dachbodentür an die Wand und lauschte. Wartete sie auf der anderen Seite auf ihn? Er musste an Connie denken. An Tony und die Kleine. Ich tu’s für euch, Kinder, dachte er. Damit ihr in einer besseren Welt aufwachst. Einer Welt ohne diese eiskalte Agentin. Er streckte den Arm aus und drückte die Klinke nieder. Mit dem Fuß schob er die Tür auf, ohne hinter dem Rahmen vorzutreten. Als nichts geschah, spähte er
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