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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge
Autoren: Titus Müller
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vorsichtig um die Ecke.
    Der Dachboden war leer, und das Fenster stand offen. Im Sand, der zur Eindämmung von Feuersbrünsten ausgestreut worden war, stand ein viereckiges Kästchen, kaum größer als eine Zigarrenschachtel mit schwarzen Drehknöpfen und einem Schalter. Ein Kopfhörer lag auf dem Gerät.
    Aber die Spionin war nicht mehr da.

3
    Er rannte zum Fenster. Unten auf der Straße war es so dunkel, dass er nur mit Mühe erkennen konnte, wie Menschen, formlose Schatten, aus den Häusern traten. Selbst wenn er ihr nachkletterte, wenn er die umliegenden Höfe und Straßen inspizierte, würde er sie ja doch nicht erkennen, und bis er die Wirtin nach ihrem Aussehen befragt hatte, war Nachtauge längst über alle Berge.
    In anderen Stadtbezirken brannte es, hell loderte das Feuer auf den Dächern. Dort, im Chaos nach dem Bombenangriff, konnte sie gut untertauchen. Straßen waren abgesperrt, Löschzüge am Werk, Menschen eilten durcheinander und versuchten, ihre Habe vor den Flammen zu retten. Die Zerstörung, die von den deutschen Bombern angerichtet worden war, half der Spionin, der Festnahme zu entgehen.
    Er kauerte sich vor das Kästchen. Wie klein es war! Und batteriebetrieben mit nur zwei Volt. Er streckte die Hände aus, um es anzuheben. Kaum ein Kilogramm leicht. Das Gehäuse war noch warm.
    Mit dem Funkgerät kehrte er zur aufgebrochenen Wohnung zurück. »Hat jemand in Ihrem Haus ein Telefon?«, fragte er die Wirtin.
    »Im Nachbaraufgang wohnt ein Rechtsanwalt, Mr Ashton. Der hat eines. Was haben Sie da? War das bei uns auf dem Dachboden?«
    »Gehen Sie und rufen Sie die Polizei. Sagen Sie ihnen, wir haben das Funkgerät einer deutschen Agentin gefunden, sie sollen den MI 5 benachrichtigen und sofort ein paar Männer schicken.«
    »Ist Miss Julia wirklich …? Eine deutsche Agentin, in unserem Haus!«
    »Sobald Sie den Anruf erledigt haben, kommen Sie bitte zurück. Ich habe einige Fragen.«
    »Aber das muss ein Irrtum sein. Miss Julia ist eine Patriotin. Sie hat doch sogar Blut gespendet für unsere verwundeten Soldaten!«
    »Gehen Sie bitte«, sagte er. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
    Die Wirtin gehorchte. Er schloss hinter ihr die Tür und sah sich aufmerksam um. Die Agentin war im letzten Moment geflohen. Ohne das Funkgerät war sie von den Führungsoffizieren abgeschnitten, weder konnte man ihr Aufträge übermitteln, noch konnte sie Spionagematerial an die Deutschen weitergeben. So etwas ließ man nicht zurück, es sei denn, es ging um Leben und Tod. Er hätte sie fast erwischt.
    Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass während des Bombenangriffs Peiltrupps in London unterwegs sein würden. Sie war vollkommen unvorbereitet gewesen. Das hieß, dass ihre Wohnung womöglich noch weiteres wertvolles Material enthielt.
    Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, während er durch die Zimmer ging. Hier hatte die Mörderin gegessen, geschlafen, ihre Botschaften verschlüsselt. Er schaltete überall das Licht ein, öffnete die Schränke. Blusen und Unterhemden waren fein säuberlich aufgeschichtet. In einer Schublade lag ein britisches Ration Book mit Lebensmittelmarken, vermutlich eine Fälschung, aber so professionell durchgeführt, dass er auf die Schnelle nicht in der Lage war, Fehler zu entdecken. Das war der Grund dafür, dass alle die Deutschen fürchteten: Sie waren gnadenlos gut organisiert. Selbst die chaotischen, zerstörerischen Kräfte des Krieges zähmten sie und führten ihn mit Präzision und tadellos funktionierender Verwaltung. Sie verwalteten den Tod, so wie sie in Friedenszeiten Kleingartenkolonien und Eisenbahnfahrpläne verwalteten.
    Ein Codebuch fand er nicht. Auch keine Notizen. Vermutlich hatte sie die Unterlagen auf den Speicher mitgenommen und bei der Flucht über das Dach am Körper getragen.
    Nachtauge brauchte wie jeder Mensch Kleidung, Nahrung, Toilettenpapier, einen Mülleimer. Hatte sie sich nie verliebt, nie den Wunsch verspürt, Kinder aufzuziehen? Wie konnte jemand so hingebungsvoll einem grausamen Staat dienen! Jahrelang hatte sie in Großbritannien Güte erlebt, spielende Kinder auf der Straße gesehen, mit den Nachbarn geplaudert. Ließ sie all das nicht an sich heran?
    Ein Jahr schon lebte sie hier, nur wenige Minuten von seinem Büro entfernt, und kämpfte gegen England. Die Arbeit des MI 5 kam ihm auf einmal lächerlich vor.
    Er betrat die Küche. Als er den ersten Schrank öffnete, fuhr er zusammen. Eine Katze lag darin, zusammengekrümmt und reglos.
    Er
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