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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge
Autoren: Titus Müller
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stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen langen, traurigen Kuss. »Geh, mein Großer.«
    Er kehrte zurück zum Eingang. Räumte Tote von der Treppe. Dutzende Feuerwehrleute, Sanitäter und Luftschutzleiter waren im Einsatz, sie luden die Verletzten in Krankenwagen und die Toten auf Karren. Einige hatten blutverschmierte Gesichter, anderen waren die Arme ausgekugelt. Mancher rö chelte noch, rang ums Überleben. Tote und Verwundete wurden zum Whitechapel Hospital gebracht. Als das überfüllt war, brachten sie die Sterbenden zur Saint John’s Church.
    Immer noch röhrten deutsche Bomber über den Himmel und warfen Sprengkörper ab. Als an Bethnal Green Station keine Hilfe mehr gebraucht wurde, lief Eric an die Themse. Eine Brandbombe wollte sich nicht löschen lassen, immer wieder entzündete sich das heiße Magnesium, das Wasser, das er daraufsprühte, verdampfte einfach, er musste einen Sandsack aufschlitzen und die Flammen mit dem Sand ersticken. Etliche Lagerhäuser brannten, in einem war Zucker verwahrt worden, brennend floss er in die Themse. Eine ekelhafte, schwere Süße lag in der Luft.
    Wäre ich Pilot, dachte er, dann würde ich jetzt in einer Mosquito sitzen und den Deutschen da oben die Benzintanks zerschießen.
    Du weißt es besser, sagte eine ruhige Stimme in ihm. Ge fährlicher als die Bomben ist Nachtauge hier am Boden, die den Gegnern funkt, wo sie London empfindlich treffen können. Die den Feinden mitteilt, mit welcher neuen Technik die britischen Nachtjäger den deutschen Radaremissionen folgen, um in der Dunkelheit des Nachthimmels die Bomber abzuschießen. Die ihnen sagt, welche Agenten zu uns übergelaufen sind.
    Nahezu sämtliche Agenten der sogenannten deutschen Abwehr hatten sie umdrehen können, und die neuen, die von den Nazis eingeschleust wurden, waren leicht zu enttarnen, sie fielen durch gefälschte Lebensmittelmarken auf, machten widersprüchliche Angaben über ihre letzte Arbeitsstelle. Man musste nur aufmerksam sein und ein paar Erkundigungen einziehen, dann schnappte man sie. Es war längst nicht mehr so leicht, sich zu verbergen, wie noch vor Jahren.
    Aber Nachtauge tauchte hier auf und verschwand dort wieder, auf so unvorhersehbare Weise, dass es dem MI 5 in den drei Jahren, die man inzwischen Jagd auf sie machte, nicht einmal gelungen war, ein Foto von ihr zu machen. Ob wir diese Frau fangen oder nicht, kann den Ausgang des Krieges entscheiden, dachte Eric.
    Wenn sich die Deutschen nach ihrer Niederlage in Stalingrad nun von Russland abwandten, wenn sie sich entschlossen, zuerst die Eroberung Westeuropas abzuschließen, dann würde England in kürzester Zeit Schauplatz eines Eroberungsfeldzugs sein. Immer waren zuerst die Agenten da gewesen. Sie machten den deutschen Blitzkrieg erst möglich. Bevor Hitler Polen angriff, hatte die deutsche Abwehr den Stab einer polnischen Armee infiltriert, einen Major angeworben und über ihn detaillierte Angaben zur Gliederung, Stationierung und Bewaffnung von drei polnischen Armeen erhalten. Außerdem erfuhr sie die Aufmarschräume im Mobilmachungsfall.
    In Frankreich war es nicht anders gewesen. Vor dem Angriff hatte die Abwehr Fotografien des gesamten Befestigungssystems der Maginotlinie besorgt. Agenten hatten sich als Flüchtlinge verkleidet und Maschinengewehre in Kinderwagen ins französische Hinterland geschmuggelt, um dort den Verteidigern in den Rücken zu fallen.
    Bestimmt hatte Nachtauge längst eine Zielkartei erstellt über britische Flughäfen, Seefestungen, Depots, Kasernen, Stellungen der Luftverteidigung und Waffenfabriken. Wo mochte sie sich jetzt, während des Bombenangriffs, aufhalten? Lag sie in einer der U-Bahn-Stationen auf ein paar Decken und beobachtete spöttisch die Panik der Londoner, die sich vor den deutschen Bomben in Sicherheit brachten?
    Oder nutzte sie den Bombenangriff für ihre Zwecke?
    Er zuckte zusammen. Deshalb also hatten sie nie die Wellen ihrer Funknachrichten peilen können! Andere Agenten nahmen zu fest verabredeten Zeiten per Funk Verbindung mit ihrem Führungsoffizier im Deutschen Reich auf, und man konnte durch trigonometrische Netzlegung ihre Position ermitteln, indem man von drei Orten aus mittels Richtantenne oder Funkkompass den sendenden Agenten anpeilte. So mancher Deutsche war dadurch schon aufgeflogen. Nachtauge hingegen nutzte scheinbar keines der schweren Koffergeräte von Telefunken. Dazu war sie zu beweglich. Und zu schnell. Die Peiltrupps des MI 5 waren nicht in der Lage,
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