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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge
Autoren: Titus Müller
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retten können und Halt gefunden hatte. Doch die Zweifel ergriffen allmählich von ihm Besitz.
    »Mama«, brüllte Tony mit herzzerreißender Verzweiflung, »Mama, wo bist du?«
    Dort, wo Eric sie zuletzt gesehen hatte, gab es eine Bewegung bei den Körpern am Boden, eine Hand reckte sich langsam in die Höhe. Er glaubte diese schmale, blasse Hand zu erkennen, setzte Tony ab, der jetzt noch lauter weinte, aber es half nichts, Eric musste anpacken. Wenn seine Frau hier unter den Leibern lag und keine Luft mehr bekam, war jeder Augenblick entscheidend. Er hievte eine schwergewichtige Frau in die Höhe. Sie war schon tot. Er half einem japsenden Mann auf die Beine und grub eine weitere Frau frei: Es war tatsächlich Connie. Neben ihr rangen ein Mann und ein Kind um ihr Leben.
    »Ich wäre fast erstickt«, krächzte sie. Sie schien der Ohnmacht nahe zu sein. »Ich hab einen Katzenbuckel gemacht für die Kleine. Eine Zeit lang dachte ich, es bricht mir den Rücken durch, so viel Gewicht war drauf.«
    Ella streckte die Ärmchen nach ihm aus, und er hob seine Tochter erleichtert hoch und strich ihr die schweißnassen Löckchen aus der Stirn. Dann wandte er sich an Connie. »Hast du dir was gebrochen?«
    Sie tastete ihre Schulter ab. »Nur geprellt, glaub ich.«
    Er küsste sie auf den staubigen Mund, und es war ihm der kostbarste Kuss seines Lebens. »Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren.«
    »Lass uns hier weggehen. Die Kinder haben schon zu viel gesehen.«
    Draußen schlugen Bomben ein, und hier drinnen rieselte Steinstaub von der Decke, und die Wände zitterten. Im Schummerlicht der Glühbirne stiegen sie nach unten in den Bunker hinab. Er dachte an die Landmine, die vor zwei Jahren hinter dem Haus der Eltern explodiert war und seinen Bruder getötet hatte. Es war Vaters Geburtstag gewesen, der 4. Mai 1941, sie alle hatten am Kaffeetisch gesessen, als die Sirenen am hellen Tag losheulten. Die Bomben fielen in einiger Entfernung, bis plötzlich bei ihnen eine Landmine herunterkam – ohne Vorwarnung, ohne Pfeifton. Die Deutschen banden solche Minen an kleine Fallschirme, sodass sie lautlos mit ihrer tödlichen Fracht in die Straßen segelten. Die Mine explodierte im Kirschbaum hinter dem Haus, kurz bevor es passierte, sah er durchs offen stehende Fenster, wie sie in die Zweige schwebte. Die Druckwelle der Detonation traf ihn wie eine steinerne Faust, er hatte nicht gewusst, dass Luft solche Kraft besitzen konnte, wurde gegen die Wand geschleudert. Das Haus begann zu schwanken, er rannte hinaus, fast noch im gleichen Augenblick regnete es Steine und Möbelsplitter, einige streiften ihn.
    Als es aufhörte, war er zuerst nicht sicher, ob er noch lebte oder tot war. Er hörte und fühlte nichts. Dann setzten Kopfschmerzen ein und ein Pochen in den Ohren. Staub hing in der Luft wie Nebel. Er begriff, dass das Haus zerstört war und die umliegenden Häuser genauso.
    In den Trümmern fand er seinen Bruder. Reglos lag Esmond unter Steinen, der halben Esszimmertür und Scherben des Willow-Porzellans, das seine Mutter Woche für Woche aus dem Regal genommen und poliert hatte. Er war kreidebleich. Ein Stück Glas steckte ihm im Bauch, es hatte die inneren Organe zerschnitten. Eric konnte nichts mehr für Esmond tun.
    Später erfuhr er, dass die Landmine neun Nachbarn getötet hatte, eine ganze Familie war ausgelöscht worden, nur der Jüngste hatte auf wundersame Weise überlebt, kaum verletzt. Ein Sechstel aller Londoner war damals ausgebombt worden und musste in Flüchtlingslager umziehen oder wurde in Bussen raus aufs Land gekarrt. Wer an der Front war, konnte zurückschießen. Aber in London, wenn die Bomben fielen, fühlte er sich hilflos, jede Bombe meinte ihn, wollte nach Esmond auch ihn niedertrümmern, und er konnte nichts darauf antworten, konnte nur laufen und sich verstecken.
    Er brachte Connie und die Kinder in ihr Abteil. Stumm legte er Tony ins Bett, deckte ihn zu, während Connie die Kleine versorgte. Die Kinder hatten nie Frieden erlebt. Sie waren in den Krieg hineingeboren worden. An Esmond würde Tony sich später nie erinnern, obwohl der Bruder ihn stundenlang im Kinderwagen durch den Hyde Park geschoben hatte. Das war die Welt, in der sie aufwuchsen: Uniformierte überall in den Straßen, finstere Bunker und das Krachen der Bomben.
    »Woran denkst du?«, fragte Connie.
    »Sei nicht böse«, sagte er, »aber ich kann mich jetzt nicht einfach hinlegen. Ich muss was tun, sonst platze ich vor Wut.«
    Sie
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