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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge
Autoren: Titus Müller
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22. Juni im Thronsaal im Buckingham Palace. Konnte er dann womöglich richtigstellen, dass er kein Australier war? Zumal sie ja wirkliche Australier im Geschwader hatten, wer weiß, vielleicht waren die als Briten vorgestellt worden!
    Der König wählte das neue Wappen ihres Geschwaders aus, er entschied sich für einen gebrochenen Damm mit drei Blitzen darüber und den Worten »Après Moi le Déluge«, nach mir die Sintflut.
    Kenneth fragte sich, ob es nicht heißen müsste, nach uns die Sintflut? Hatte Madame de Pompadour das nicht so gesagt? Es würde für alle Zeiten falsch auf dem Wappen stehen, er würde mit diesem Fehler am Flugzeug fliegen. Aber mit seinen schmutzigen Schuhen durfte er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Besser, er hielt sich im Hintergrund. Er konnte von Glück reden, wenn er keinen Verweis erhielt für sein nachlässiges Auftreten.
    Erst am Abend, als König George VI . und Königin Elizabeth längst abgereist waren und sie im Offizierskasino ihre Auszeichnungen feierten, fiel die Anspannung von ihm ab, und ihm wurde bewusst, dass er es mit seinen zweiundzwanzig Jahren wirklich weit gebracht hatte.
    Der Nebel stieg von den Waldwiesen auf, er waberte an den Tannen hoch. Georg drückte Nadjeschkas Hand, und sie verstand sofort, blieb regungslos stehen. Vor ihnen hob ein Reh den Kopf, es sah sie scheu an, während seine schwarzen klei nen Nüstern bebten. Es witterte ihren Menschengeruch. Dann sprang es davon, nicht panisch, sondern leichtfüßig und ohne Eile.
    Sie wandten sich einander zu und lächelten.
    Ein Vogel piepte schrill. Georg sagte: »Großvater konnte sie alle auseinanderhalten. Baumpieper, Rotrückige Würger, Goldammern, Dorngrasmücken oder Tannenmeisen. Er hätte jetzt genau gewusst, wie dieser Vogel heißt.«
    Sie gingen weiter in Richtung des Baches.
    Der Gedanke an Großvater tat ihm weh. Er stellte sich vor, wie das Wasser in das Auto eingedrungen war und welche Angst Großvater ausgestanden haben musste. Vor seinem Tod hatte er gewusst, wem er all das verdankte. Und auch, dass er, Georg, ihn angelogen hatte. »Nach so einer Enttäuschung zu sterben«, sagte er leise. »Das Herz muss ihm geblutet haben, und dann dieser Tod …«
    »Nein, Georg.« Nadjeschka blieb stehen. Streng sah sie ihn an. »Hast du nicht gehört, wie er Axel beschimpft hat? Er fand, du hast das Richtige getan. Für ihn hat sich nichts geändert. Ich hab gesehen, wie er dich musterte, als wir unten bei den Autos standen und einsteigen sollten. Sein Gesicht war voller Mitleid und Liebe.«
    Erzählte sie das nur, um ihn zu trösten? Oder war es wahr? Sie stiegen den Abhang zum Bach hinunter. Er sagte: »Hast du den Film Vom Winde verweht gesehen? Gab es den bei euch im Kino?«
    »Ich hab davon gehört.«
    »Walter hat mir vorhin erzählt, dass sie Leslie Howard abgeschossen haben, den, der den Ashley Wilkes spielt im Film, Scarletts große Liebe. Er flog in einer Verkehrsmaschine von Lissabon nach Bristol, und eine deutsche JU 88 hat sie angegriffen. Der Pilot soll noch versucht haben, ihr zu entkommen, er ist Kurven geflogen und hat sogar das Flugzeug mit allen Passagieren auf den Kopf gestellt, aber er konnte es nicht schaffen. Im britischen Rundfunk haben sie den Absturz bestätigt.«
    »Warum sollten Schauspieler vom Krieg verschont bleiben? Sie sterben wie wir anderen.«
    »Das meine ich nicht. Ich dachte nur, an Leslie Howard werden sich viele erinnern. Er hat diese Filme hinterlassen, man hat seine Art, sich zu bewegen und zu reden, für alle Zeiten festgehalten. Doch was passiert mit Großvater? Anneliese und ich kennen ihn, wir denken an ihn. Siegfried vielleicht. Eines Tages dann hat ihn jeder vergessen. Genauso ist es mit uns. Wenn uns die Gestapo findet oder der Flurschütz oder irgendwer, und sie hängen uns auf – wer wird dann in zwanzig Jahren noch an uns denken?«
    »Gott. Er vergisst uns nie.«
    »Du glaubst an Gott?« Er war sich da nicht sicher. Wenn er an Gott glaubte, müsste er eigentlich mehr an ihn denken.
    »Natürlich. Du etwa nicht? Welchen Sinn hat das alles hier, wenn wir wie in einem Theaterstück einen kurzen Auftritt haben und danach für alle Zeiten verschwinden? Was ist, wenn wir unseren Auftritt verpatzen? Nein, das kann ich nicht glauben. Ich freue mich darauf, mir eines Tages das Kostüm herunterzureißen. Es gibt ein Leben nach dem Thea terstück.«
    Die zarte, schwache Nadjeschka kam ihm auf einmal viel stärker vor. Sie konnte glauben, so richtig, ohne den
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