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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge
Autoren: Titus Müller
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schwankenden Boden des Zweifels.
    Unten am Fluss kauerte er sich ans Ufer und zeigte ihr, wie man mit der Hand Forellen fing. »Du musst nur schnell unter die Uferböschung greifen«, sagte er, »schau, so!« Er stieß die Hand ins Wasser und zog sie wieder heraus.
    »Und wo ist der Fisch?«
    »Es klappt nicht jedes Mal. Aber irgendwann hat man einen.« Es roch nach Pfefferminze, das Ufer war bewachsen mit Minzepflanzen. »Probier’s mal aus!«
    Nadjeschka hockte sich hin und griff unter die Böschung. Sie lachte laut. »Da war etwas! Ich hab einen Fisch gefühlt, er hat kurz meine Hand gestreift!«
    Er liebte es, wenn ihre Augen so strahlten. Er versuchte es noch einmal, fing aber wieder nichts. »Wer zuerst einen hat«, forderte er sie heraus.
    Sie stieß die Hand hinein.
    Wie damals, dachte er, es ist wie damals, als ich mit Anneliese am Bach war und wir Forellen gefangen haben. Er vermisste seine Schwester. Bis der Krieg zu Ende war, würde er sie wohl nicht wiedersehen. Er sagte: »Ein bisschen mulmig ist mir immer dabei. Als Kind hab ich nämlich mal eine Wasserratte gegriffen.«
    Entsetzt riss Nadjeschka ihre Hand aus dem Fluss.
    »Keine Sorge. Die Ratte war genauso erschrocken wie ich.« Er sah sich um. Sie konnten von Glück reden, dass es heute so neblig war. Der Flurschütz hatte bei seinen Wanderungen immer einen guten Feldstecher dabei.
    Nadjeschka blickte sich ebenfalls ängstlich um. »Du darfst mir so etwas nicht sagen.«
    Eine Heidelerche flatterte auf und goss ihre sanfte Melodie auf das Grün der Waldlichtung nieder. Er musste daran denken, wie Großvater ihm früher geholfen hatte, eine Walnuss aufzubrechen und sie vor dem Fenster aufzuhängen, damit er die Vögel beim Fressen des Nusskerns beobachten konnte.
    Er erhob sich und ging zu Nadjeschka hinüber. Sie stand ebenfalls auf. Etwas verunsichert sah sie ihn an. Er umarmte sie.
    »Bleib mir weg mit deinen nassen Händen«, sagte sie, aber sie hielt ihn fest, ganz offensichtlich genoss sie die Umarmung.
    Er sagte: »Ich hab mit meinen Schülern jedes Jahr ein Gedicht von Rilke gelernt, vielleicht kann ich das letzte noch auswendig.
    Bist du so müd? Ich will dich leise leiten
    aus diesem Lärm, der längst auch mich verdross.
    Wir werden wund im Zwange dieser Zeiten.
    Schau, hinterm Wald, in dem wir schauernd schreiten,
    harrt schon der Abend wie ein helles Schloss.
    Komm du mit mir. Es soll kein Morgen wissen,
    und deiner Schönheit lauscht kein Licht im Haus …
    Dein Duft geht wie ein Frühling durch die Kissen:
    Der Tag hat alle Träume mir zerrissen, –
    du, winde wieder einen Kranz daraus.
    Sie sah zu ihm auf und schwieg. In ihrem Blick lag die ganze Tiefe ihrer weiblichen Seele.
    Nie wieder wollte er diesen Blick loslassen. »Nadjeschka«, sagte er, »wenn der Krieg einmal vorüber ist und wenn dein Gott schenkt, dass wir überleben – würdest du …« Weiter wagte er sich nicht.
    »Deine Frau werden?«, fragte sie.
    Ihm zog sich die Kehle zu. So verwundbar war er noch nie gewesen, in seinem ganzen Leben nicht. Er nickte.
    »Ja«, flüsterte sie. »Von ganzem Herzen, ja.«

Anhang

Inspiriert durch den Aufseher des Barackenlagers auf den Möhnewiesen, Karl Josef Stüppardt, und die Zwangsarbeiterin Elena Wolkowa, denen es gelang, ihre Liebe geheim zu halten. Sie überlebten die Bombardierung der Möhnetalsperre und entgingen der Gestapo.
    Karl und Elena heirateten am 16. Juni 1945 in der Neheimer Pfarrkirche Sankt Johannes Baptist, fünf Wochen und vier Tage nach Kriegsende. Sie haben gemeinsam sechs Kinder aufgezogen.

Nachwort zum historischen Hintergrund
    Agentinnen im Zweiten Weltkrieg
    Zu den wenigen deutschen Spionen, die nach Kriegsausbruch noch unentdeckt in England weiterarbeiten konnten, gehörte Mathilde Krafft, eine Deutsche mit britischer Staatsangehörigkeit.
    Nathalie Surguenjew, eine Französin weißrussischer Ab stammung, wurde in Paris von der Abwehr als Agentin an geworben und einem ausführlichen Trainingsprogramm unterzogen. Nachdem sie über Spanien nach England gereist war, wechselte sie im November 1943 die Seiten und arbeitete fortan als Doppelagentin für die Briten. Sie galt als temperamentvoll und schwierig. Weil sie ihrem Hund Babs die sechsmonatige Quarantäne bei der Einreise nach England ersparen wollte, ließ sie ihn in Gibraltar zurück und erwartete, dass der britische Geheimdienst ihn unter Umgehung der Vorschriften nach England brachte. Als diese Hoffnungen enttäuscht wurden und der Hund während
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