Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht

Nacht

Titel: Nacht
Autoren: Richard Laymon
Vom Netzwerk:
schrie ich und hätte fast zu weinen angefangen.
    »Komm einfach her und lass mich machen«, sagte Judy.
    »Okay«, sagte ich. Ich bückte mich, hob das Messer auf, und ging dann zu ihr hinüber, wobei ich das lange Ende des Kabels auf dem Boden hinter mir herzog.
    »Weißt du, was ich mir gerade überlegt habe?«, fragte Judy.
    »Was denn?«
    »Ob wir nicht beide zusammen von hier verschwinden sollten.«
    »Wie bitte?«
    »Wir sollten einfach verschwinden. Wir beide. Du und ich.«
    »Okay.« Ich ging hinter Judy in die Hocke und schnitt mit dem Messer das straff gespannte Stück Strick zwischen ihren Händen und Füßen durch.
    »Ah!« Judy seufzte erleichtert und streckte die Beine aus.
    »Meine Güte, fühlt sich das gut an«, sagte sie. »Vielen Dank, Alice.«
    Ihre Füße und Hände waren immer noch gefesselt. Ich entschied mich dafür, zuerst ihre Hände zu befreien.
    »Keine faulen Tricks«, warnte ich sie. »Oder ich bringe dich wirklich um.«
    »Keine Angst. Das mit dem gemeinsamen Verschwinden habe ich ernst gemeint«, gab Judy zurück.
    Ich hörte auf, an ihren Fesseln herumzuschneiden, und sagte:

    »Nein, das hast du nicht.«
    »Steve und Milo haben einen Lieferwagen.«
    »Ich weiß.«
    »Vielleicht können wir ihn finden und damit abhauen. Die brauchen ihn ja nun wirklich nicht mehr.«
    »Aber du willst doch gar nicht mit mir abhauen. Ich weiß das, weil Steve mich vorhin mit demselben Trick reinlegen wollte. Und dich offenbar auch. Du kannst mir also nichts vormachen …«
    »Tue ich auch nicht. Zwischen uns ist das was anderes.«
    »Und was, wenn ich fragen darf?«
    »Ich habe Steve gehasst. Dich hasse ich nicht.«
    »Das solltest du aber. Nach allem, was ich dir angetan habe.«
    »Du hattest Angst und wolltest deine Haut retten. Das ist alles.«
    »Hast du vergessen, dass ich dich umbringen wollte?«
    »Aber du hast es nicht getan«, sagte sie. »Stattdessen hast du mir zweimal das Leben gerettet und dafür erst Milo und dann Steve getötet. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
    »Nein, das stimmt nicht. Du schuldest mir überhaupt nichts. Ich habe dich furchtbar schlecht behandelt …«
    »Vergiss es, Alice.«
    »Wie soll das gehen?«
    »Ich glaube, dass wir prima miteinander auskommen könnten.
    Lass uns einfach den Lieferwagen nehmen und losfahren.«
    »Warum?«
    »Du weißt, warum.«
    »Sag du es mir.«
    »Weil wir beide viel zu tief in diese Sache verstrickt sind«, sagte Judy.
    »Du bist nicht in die Sache verstrickt. Du bist nur das Opfer.«
    »Aber das muss mir die Polizei erst mal glauben. Mein Ex‐Freund liegt tot im Kofferraum seines Wagens, der in der Tiefgarage meines Wohnhauses steht. Das macht mich von Anfang an zur Hauptverdächtigen. Die brauchen nur einen Blick auf mich zu werfen und wissen, dass ich mit jemandem gekämpft habe.«
    »Ja. Mit Milo und Steve. Und mit mir.«
    »Und genau das ist der springende Punkt, Alice. Ich kann die Wahrheit nicht sagen, ohne dass ich dich anschwärze. Und weil ich das nicht will, würde ich jede Menge Ärger kriegen. Du siehst, ich kann gar nicht hier bleiben.«
    »Wenn man es so betrachtet, hast du recht«, gab ich zu.
    Wir hatten beide den Punkt, an dem man alles noch mit ein paar einfachen Lügen hätte erklären können, längst überschritten.
    Die Wahrheit würde Judy – falls die Polizei ihr glaubte – zwar reinwaschen, mich aber dafür umso tiefer hineinreiten.
    »Du willst wirklich alles aufgeben und mit mir abhauen?«, fragte ich.
    »Was gebe ich hier schon groß auf? Ich habe keine Familie, keinen Liebhaber und einen lausigen Job. Wir könnten also gut irgendwohin fahren und ganz von vorne anfangen. Wir könnten unsere Namen ändern, uns die Haare färben … wäre das nicht toll?«
    »Klingt nicht übel.«
    Wenn ich mit Judy irgendwohin ging, würde ich vermutlich meine Wohnung über der Garage sowie Serena und Charlie und die Kinder vermissen, aber so aufregend war das Leben mit ihnen nun auch wieder nicht. Auch ich würde hier also nicht allzu viel aufgeben.
    Bei dem Gedanken, mit Judy wegzugehen, fühlte ich mich auf einmal wie ein unternehmungslustiges junges Mädchen am Beginn eines großen Abenteuers.
    Aber das heißt noch lange nicht, dass es auch so kommen wird.
    »Meinst du es wirklich ernst?«, fragte ich Judy.
    »Natürlich meine ich es ernst.«
    Ich machte weiter und schnitt den Strick um ihre Handgelenke durch.
    »Wunderbar«, sagte Judy »Das fühlt sich herrlich an.« Sie wälzte sich auf den Rücken und rieb sich die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher