Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
ihr seinen Morgengruß zu bringen.
    Sie war immer noch beim Fluß und spielte mit einem katzengroßen, vielbeinigen pelzigen Wesen, das sich um einen Busch gewunden hatte. »Sieh dir das an, Zen!« rief sie ihm zu. »Ist das nun eine Katze oder eine Raupe?«
    »Bleib weg von ihm!« schrie Holbrock laut, so daß sie erschreckt zurücksprang. Er hatte bereits seine Waffe in der Hand und den Finger am Abzug. Das kleine Tier klammerte sich unbekümmert mit immer mehr Beinen um immer mehr Äste.
    Naomi faßte ihn am Arm und sagte mit belegter Stimme: »Töte es nicht, Zen. Ist es gefährlich?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Bitte, töte es nicht.«
    »Grundregel auf diesem Planeten«, sagte er: »Alles mit einem Rückgrat und mehr als einem Dutzend Beinen ist wahrscheinlich tödlich.«
    »Wahrscheinlich«, sagte sie neckend.
    »Wir kennen noch immer nicht jedes Tier hier. Dieses zum Beispiel habe ich noch nie gesehen, Naomi.«
    »Es ist zu niedlich, um gefährlich zu sein. Willst du nicht die Waffe wegstecken?«
    Holbrock schob sie wieder ins Halfter und ging näher an die Kreatur heran. Keine Krallen, kleine Zähne, schwacher Körper. Schlechte Zeichen: Ein Satansbraten wie dieser hatte keine sichtbaren Abwehrmittel, und so war die Wahrscheinlichkeit hoch, daß er in seinem pelzigen kleinen Schwanz einen giftigen Stachel versteckte. Die meisten der verschiedenen Vielbeiner waren damit ausgestattet. Holbrock griff sich einen Stock und stocherte damit auf das Tier ein.
    Sofortige Reaktion: Ein Zischen und Schnarren, und das Hinterteil der Bestie kam herum, und wham! bohrte sich ein häßlicher Stachel in die Rinde des Stockes. Als er wieder herausgezogen wurde, liefen an dem Ast ein paar Tropfen einer rötlichen Flüssigkeit herunter. Holbrock trat zurück; das Tier sah ihn aufmerksam an und schien ihn förmlich darum zu bitten, doch in seinen Aktionsbereich zu kommen.
    »Niedlich«, sagte Holbrock. »Hübsch. Naomi, möchtest du denn nicht wenigstens sechzehn Jahre alt werden?«
    Blaß und zitternd stand das Mädchen da, benommen von der Wildheit des Angriffs der Bestie. »Das Tier schien mir so sanft zu sein«, sagte sie. »Fast zahm.«
    Holbrock stellte seine Strahlwaffe auf »fein« ein, dann brannte er in Sekundenbruchteilen dem Tier ein Loch in den Schädel. Es fiel vom Busch herunter und bewegte sich nicht mehr. Naomi stand mit gesenktem Kopf da, Holbrock legte ihr einen Arm um die Schultern.
    »Es tut mir leid, Liebling, ich wollte deinen kleinen Freund nicht umbringen. Aber noch eine Minute später, und er hätte dich umgebracht. Achte auf die Beine, wenn du hier mit wilden Tieren spielst. Ich habe es dir oft gesagt: Zähl die Beine.«
    Sie nickte. Das war eine nützliche Lektion für sie gewesen, nicht einfach den Äußerlichkeiten zu vertrauen. Schön ist nicht immer gleich lieb. Holbrock scharrte in dem kupfergrünen Gras und dachte einen Augenblick daran, wie es ist, fünfzehn Jahre alt zu sein und langsam die Gesetze des Universums zu begreifen. Sanft sagte er zu ihr: »Komm, besuchen wir Plato, ja?«
    Naomi strahlte wieder. Das war der Vorteil mit Fünfzehn: Man schaltet schnell um.
    Sie stellten den Wagen vor Sektor C ab und gingen zu Fuß in das Gehölz hinein. Die Bäume mochten es nicht, wenn motorisierte Fahrzeuge zwischen ihnen umherfuhren – nur wenige Zentimeter unter dem weichen Humusboden waren sie miteinander durch ein feines Wurzelnetz verbunden, das für sie eine bestimmte neurologische Funktion hatte, und obwohl das Gewicht eines Menschen nicht zu Störungen führte, rief ein schweres Fahrzeug einen Chor von lauten Klagen bei ihnen hervor. Naomi ging barfuß, Holbrock trug kniehohe Stiefel. Er kam sich groß und unbeholfen vor, wenn er neben ihr ging.
    Das Mädchen spielte sein Spiel mit den Bäumen. Er hatte sie allen vorgestellt, und jetzt war sie mitten drin. Sie grüßte Alkibiades und Hektor, Seneca, Heinrich den VIII. und Thomas Jefferson und König Tut. Naomi kannte die Bäume genauso gut wie er, vielleicht sogar besser, und die Bäume kannten sie. Während sie zwischen ihnen umherlief, zitterten sie aufgeregt und pfiffen und hielten sich gerade, um den besten Eindruck auf sie zu machen. Selbst der alte Sokrates, gebeugt und träge, riß sich etwas zusammen. Naomi ging zu dem Lagerschuppen, der mitten in dem Gehölz stand und in dem die Roboter jeden Abend einige Stücke Fleisch zurückließen, um für ihre Lieblinge ein paar Leckerbissen zu holen. Händeweise trug sie blutrotes Fleisch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher