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Nacht des Verfuehrers - Roman

Nacht des Verfuehrers - Roman

Titel: Nacht des Verfuehrers - Roman
Autoren: Lydia Joyce Gabi Langmack
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ihr wie der junge Apoll auf einer Miniatur, als er das Gesicht so in den Wind drehte, der sein helles Haar zerzauste. Doch dann sah er sie an, und sie begriff, dass seine Locken nicht im Geringsten golden, sondern silbern waren, durchzogen von Strähnen in tiefstem Schwarz. Die Haare rahmten sein faltenloses Gesicht, das von zwanzig bis fünfzig jeden Alters hätte sein können, die Gesichtszüge waren ausdrucksstark, doch eher fein als zerklüftet, und die Augen wiesen eine östliche Schrägstellung auf, was ihm, zusammen mit dem Haar, den Hauch von einer anderen Welt verlieh.
    Plötzlich wusste Alcy, warum die Frauen in den alten Balladen ständig ihren märchenhaften Liebhabern verfielen. Als sein Blick sie streifte, zog der Mann die Augen zusammen, und Alcy spürte, wie ihre Haut zu prickeln begann, ein Gefühl, das einen alarmierenden Übermut in ihr erweckte.
    Celeste, die verstummt war, fing plötzlich wieder innig an zu beten, und Alcy sah aus dem Augenwinkel, wie sie sich bekreuzigte, als sei der Mann ein Dämon, der gekommen war, um ihre Seele zu stehlen. Zu stehlen? Die Frau möchte ich sehen, die sich ihm verweigert, wenn er darum bittet, ging es ihr durch den Kopf.

    Der Baron – sie konnte diesen Mann nicht beim Vornamen nennen, auch wenn sie das in ihren Briefen die letzten vier Monate über freimütig getan hatte – kam auf sie zu. Alcy saß wie erstarrt da, beobachtete ihn fasziniert und mit trockenem Mund, während ihr Körper bei jedem seiner Schritte sang. Er bewegte sich mit einer Art kontrollierter Energie, wie sie ihr nie zuvor begegnet war. Die Augen unter den dunklen Brauen waren von einem kalten, hellen Blau, doch sie glühten von einer Charakterstärke, die Alcy gerne »Charisma« genannt hätte, so trivial das Wort auch scheinen mochte. Es war ihr nicht möglich, während er sich ihr näherte, die Gedanken zu ergründen, die in den Tiefen dieser Augen flackerten, dazu kamen und gingen sie zu schnell. Doch es war klar, dass er gar nicht erst den Versuch unternahm, sie vor ihr zu verbergen. Er war kein Mann, der seine Gefühle zu verbergen pflegte, wie immer sie auch aussehen mochten. Das hatte er nie nötig gehabt. Alcy beneidete ihn plötzlich zutiefst.
    Baron Benedek blieb neben ihrem Maultier stehen und packte den Steigbügel. Er wollte, dass sie abstieg – das begriff Alcy. Sie schwang sich steif aus dem Sattel, während ihr Magen vor Nervosität und unwillkürlicher Erregung flatterte.
    Der Baron nahm sie am Ellenbogen, bevor ihre Füße den harten Erdboden berührten, und sie verspürte einen kleinen freudvollen Stich in ihrer Mitte, auch wenn sein dicker Handschuh und ihr Ärmel sie noch voneinander trennten. Er hatte ihr vermutlich nur Halt geben wollen, aber dann nutzte er die Gelegenheit, ihren Arm unterzuhaken und sie fest an seine Seite zu ziehen.
    Alcy hatte die verrückte Idee, er fürchte, sie könnte fliehen,
und wollte ihr vorsichtshalber jede Fluchtmöglichkeit abschneiden. Sie ging im Geist die langen, verschlungenen Pfade durch, die sie in den vergangenen sechs Tagen zurückgelegt hatten. Wohin hätte sie fliehen sollen? Wie? Und was ließ ihn glauben, dass sie das wolle? In ihren Überlegungen schwang ein leichter Anflug von Hysterie mit.
    Seine spöttischen Augen straften seine ernste Miene Lügen, und er sagte etwas in einer Sprache, die Alcy nicht verstand. Sie zwinkerte und starrte ihn wortlos an, ließ das Schweigen sich dehnen, bis sie sich genötigt fühlte, etwas zu erwidern, wollte sie nicht brüskierend erscheinen. Sie räusperte sich und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als ihr die vielen sittsam zärtlichen Briefe wieder einfielen, die sie ihm geschrieben hatte, seit ihre Verlobung offiziell war. Jetzt, in seiner Gegenwart, schienen ihr diese Briefchen unerhört naiv, wie aus einem anderen Leben, und sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte.
    »Herr Benedek, vermute ich?«, fragte sie zögerlich in dem Schuldeutsch, das ihre Gouvernante ihr beigebracht hatte.
    Der Baron zog die Augen zusammen, und Alcy fürchtete, in den funkelnden Tiefen einen Anflug von Bedauern zu erkennen. »In diesem Teil der Welt wird ein Adeliger mit seinem vollen Titel angesprochen«, erwiderte er gleichfalls auf Deutsch. »Ein Baron wäre nie nur ein Lord.«
    Des Fehlers wegen beschämt, schluckte Alcy gegen ihren rebellierenden Magen an. Sie hatte herausgefunden, dass die Ungarn den Familiennamen vor den Vornamen stellten; warum hatte sie nicht daran gedacht, auch
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