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Nacht aus Rauch und Nebel

Nacht aus Rauch und Nebel

Titel: Nacht aus Rauch und Nebel
Autoren: Ma2
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schlierenhafte Bewegungen, wabernde Nebelfetzen, die auf die Ränder der Stadt zukrochen. Oder bildete ich mir das nur ein?
    Ich versuchte, mich zu orientieren, erkannte den Palast meines Vaters auf dem Hügel, der Grind genannt wurde, das glitzernde Band des Hades, der die Stadt durchfloss, und die Siedlung der Arbeiter im Krawoster Grund. Endlich schälten sich die vertrauten Türme Notre-Dames aus dem Dickicht. Das Nichts war so nah herangekommen! Es musste innerhalb der letzten Stunden eine Strecke von sicher einhundert Metern zurückgelegt haben. Nur noch der kleine Platz, an dem die Kathedrale errichtet worden war, lag nun zwischen ihr und dem Nichts, das sich in ein viktorianisch anmutendes Stadthaus hineingegraben hatte, sodass nur noch dessen Fassade am Rande des Platzes in den Himmel ragte.
    Überall standen Menschen in altmodischer Kleidung und betrachteten die Ungeheuerlichkeit. Eine Frau bückte sich, klaubte ein helles Pulver vom Kopfsteinpflaster und betrachtete es im Licht des Heliometers, der über ihrem Kopf schwebte. Ich riss die Augen auf, während ich immer näher kam. War das die Asche, von der Marian gesprochen hatte? Ascheregen? Die weißliche Substanz bedeckte auch das Dach der Kathedrale. Ich streckte meine Hand nach den Schindeln aus, um das Zeug zu berühren. Meine Finger waren nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt.
    Doch die Begutachtung des Wetterphänomens musste ich auf später verschieben, denn in diesem Moment blinzelte ich. Mein Sturz endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Statt vom Himmel zu fallen, lag ich wieder in einem Bett in einem Zimmer. In einem schwarz-weißen allerdings, das vollgestopft war mit Dingen wie Surfbrettern und Bungee-Seilen und Kampfstöcken. Nichts, womit ich groß etwas hätte anfangen können. Doch meine Seele, mein Unterbewusstsein, das hier in der Schattenwelt gelebt hatte, bevor ich eine Wandernde geworden war, hatte so manches anders gesehen als ich. Einen Teil davon verstand ich mittlerweile nur allzu gut. Etwa, dass die Schatten-Flora den Weißen Löwen verborgen hatte. Oder ihre Vorliebe für einen gewissen Finnen. Andere hingegen waren mir noch immer ein Rätsel. Das Chaos, das ich in diesem Zimmer vorgefunden hatte, zum Beispiel.
    Ich schwang die Beine über die Bettkante und faltete die Patchworkdecke, unter der ich gelegen hatte, zu einem ordentlichen Rechteck. Dann schlüpfte ich in meine weichen Lederstiefel und den Kampfanzug aus dunklem Tuch, den alle Kämpfer des Grauen Bundes trugen, und schnappte mir einen der Langstäbe, die hinter der Tür lehnten. So ausgerüstet trat ich auf den Gang hinaus und machte mich durch farblose Flure voller Teppiche und aus den Wänden ragender Fackeln auf den Weg zum Dämmerungstraining. Denn wenn es einen Termin gab, zu dem ich nach Meinung des Großmeisters musste, dann war es dieser. Immerhin hatte ich Freunde, die es gegen mächtige Schattenpferde zu verteidigen galt, daran änderte auch ein sich bewegendes Ungeheuer von Nichts nicht das Geringste.
    Ein bisschen war es, als würde ich durch die Kulissen eines alten Horrorfilms aus den Zwanzigerjahren streifen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ein Mitglied der Addams Family um die nächste Ecke gebogen wäre, so bizarr wirkten das gräuliche Flackern der Flammen und die Schatten des altmodischen Mobiliars, mit dem Generationen von Mitgliedern des Grauen Bundes die Kathedrale bis in die hintersten Ecken vollgestopft hatten.
    Die verwinkelten Flure waren um diese Zeit menschenleer. Vielleicht weil alle draußen waren, um das Nichts zu betrachten. Oder, und das war eindeutig wahrscheinlicher, ich war extrem spät dran. Unfassbar viel zu spät dran. Und das ohne vorherige Abmeldung! Ich ahnte bereits, dass Madame Mafalda den augenscheinlichen Weltuntergang, der sich vor den Toren Notre-Dames vollzog, nicht als Entschuldigung durchgehen lassen würde. Rasch klemmte ich mir den Langstab fester unter den Arm und legte einen Zahn zu.
    Das Geräusch, mit dem ich mir dreißig Sekunden später den Fuß an einem Biedermeiersekretär stieß, war in der Stille so lächerlich laut, dass ich mich gezwungen sah, es mit heftigem Fluchen zu übertönen. Verdammter Mist!
    Ich rieb mir den pochenden Zeh, als sich direkt vor meiner Nase die Flügeltüren des Tiberischen Saales öffneten. Wie immer thronte Madame Mafalda, Schwester des Großmeisters und legendäre Kämpferin, auf ihrem storchenbeinigen Stuhl in der Mitte des Raumes. Ein zeltartiges Kleid umspielte
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