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Nacht aus Rauch und Nebel

Nacht aus Rauch und Nebel

Titel: Nacht aus Rauch und Nebel
Autoren: Ma2
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machte. »Was ist passiert?«, fragte ich, jede Silbe einzeln betonend. Ich unterdrückte den Impuls, Marian bei den Schultern zu packen und zu schütteln. »Wurde jemand verletzt? Geht es meinem Vater gut? Hat der Kanzler –«
    »Es hat geregnet«, flüsterte Marian. »Ascheflocken! Und das Nichts … es bewegt sich wieder! «
    Die Furcht schwappte durch meine Glieder wie Eiswasser. Fassungslos starrte ich Marian an und er starrte zurück. Das sonst so leuchtende Grün seiner Augen wirkte dunkel, als läge ein Schleier darüber.
    »Es bewegt sich wieder?«, wiederholte ich seine Worte, die sich so ganz falsch auf meiner Zunge anfühlten. Schließlich durfte das nicht sein. Das Nichts, das die Schattenstadt umgab und alle paar Jahrzehnte einen Teil von ihr fraß, war noch lange nicht wieder so weit. Jedenfalls war dies die einhellige Meinung der Wissenschaftler Eisenheims gewesen. Erst vor wenigen Tagen hatten sie meinem Vater noch versichert, wie zuversichtlich sie wären, bald hinter das Geheimnis der vollkommenen Abwesenheit von Materie zu kommen und ein Mittel, mit dem man das Nichts würde kontrollieren können, zu entwickeln. Das Nichts, das in gleichem Maße faszinierend wie tödlich war. »Das kann nicht sein.«
    Doch Marian nickte kaum merklich. »Es leckt an den Mauern Notre-Dames.«
     
    Mit dem Nachtexpress fuhr ich zu unserer Wohnung in Essen-Steele, die ich stockfinster und grabesstill vorfand. Sicherheitshalber überprüfte ich alle Zimmer, inklusive des Geheimbüros meines Vaters hinter der Wand seines Arbeitszimmers, in dem wir Marian beherbergt hatten, als er sich noch als Austauschschüler ausgegeben hatte. Erleichtert stellte ich fest, dass sowohl mein Vater als auch unsere ältliche Haushälterin Christabel schlummernd in ihren Betten lagen, Ersterer in einem mit Goldfischen bedruckten Pyjama voller Chipskrümel, Letztere mit pinkfarbenen Lockenwicklern im Haar und einer gehäkelten Schlafbrille mit Troddeln über den Augen. Doch bis auf die Geschmacksverirrung wirkten beide gesund und vor allem lebendig. Ich atmete auf. Das Nichts hatte bisher keinen von ihnen verschlungen.
    Vermutlich riefen die beiden in Eisenheim gerade den Notstand aus. Immerhin war mein Vater der Herrscher der Schattenstadt und Christabel sein treuer Bodyguard.
    Auf leisen Sohlen schlich ich ins Bad und putzte mir die Zähne, dann legte ich mich mit Klamotten ins Bett. Mittlerweile war es fast vier Uhr, nur noch zweieinhalb Stunden blieben mir bis zum Weckerklingeln und die würde ich nutzen. Um meinen Körper auszuruhen. Und um die Lage in Eisenheim auszukundschaften. Ich hatte Glück, dass es bereits so spät und ich zum Umfallen müde war. Der Schlaf stellte sich ein, kaum dass ich meine Augen geschlossen hatte.
    Wie immer, seit ich zu einer Wandernden geworden war, war das Einschlafen kein sanftes Hinüberdämmern, kein Durcheinanderwirbeln von Gedankenfetzen, die sich zu Traumbildern formten, sondern ein dunkler Sog, dem ich mich nicht widersetzen konnte. Von einem Herzschlag zum nächsten war in mir nichts als Schwärze, Finsternis, die jede Faser meines Körpers aushöhlte und mich verschlang. Schon fiel ich. Wind zerzauste mein Haar und ließ es hinter mir flattern.
    Ich schrie nicht, während ich ins Bodenlose stürzte. Warum auch? Es gab keinen Grund, Angst zu haben. Zuerst kam die Schwärze, dann das Licht und dann die Stadt. Nacht für Nacht, wann immer ich einschlief. Auch heute umfingen mich Wärme und Helligkeit jäh und wohltuend. Das Gleißen, dessen Quelle ich nicht ausmachen konnte, lockte und liebkoste mich, sodass ich am liebsten dort geblieben wäre. Aber natürlich ging das nicht, denn ich fiel immer weiter. Zärtlich strichen die letzten Lichtstrahlen über meine Wangen. Dann griff eisige Kälte nach mir und biss mir ins Gesicht. Ich sauste durch Nacht und Dunkelheit und erkannte um mich herum andere Seelen, die ebenfalls fielen.
    Unter uns lag Eisenheim, ein farbloses Meer aus Häusern und Straßen, schattenhafte Pendants berühmter Bauwerke aus allen Epochen und Kulturen. Noch hatte die Stadt, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte, die Größe einer Briefmarke. Aber das änderte sich mit jedem Atemzug, den ich tat. Immer schneller raste ich in die Tiefe. Bald schon konnte ich das Nichts ausmachen, das die Schattenstadt wie eine Faust umschlossen hielt, jederzeit bereit zuzudrücken. Auch heute beugte es sich über Eisenheim, bereit zum Sprung, doch kam es mir vor, als wären da
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