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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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zuwider war, sich in Abhängigkeit zu begeben, wenn nur sie es sein konnte, die wählte. Unbefangen, spöttisch und voller Selbstironie sprach sie mir als Zeichen ihres Vertrauens von dem jungen Lehrer, der, schwer verwundet und vom Heeresdienst befreit, ihrem Vater als Hilfe beigegeben war. Wie er Orgel spielt, sagte sie, und ich hatte mir vorzustellen, wie sie Sonnabend nachmittags im Kirchenschiff saß und er für sie spielte; denn daß sie seinetwegen am Sonntag zum Gottesdienst ging, war nicht wahrscheinlich. Sie sah meinen ungeschickten Gedanken zu und lächelte tiefer, als mir keine Antwort einfiel, beklommen vor Blödigkeit, wie ich war, da sie mir also auch »darin« voraus war und mich fürkindisch halten mußte. Sie solle sich bloß vorsehen, brachte ich schließlich heraus, als verstünde ich das mindeste von den Angelegenheiten, die ihr schon so nahe gerückt waren. Wir lehnten an der Schulmauer, sie drückte bucklig in unsere Schultern, unsere Taschen standen neben uns, und mit den Fußspitzen malten wir Kreise in den Kies. Krischan, sagte ich, ohne sie anzusehen, schreib mal, Krischan, ja? – Die Weihnachtsferien begannen.
    Warum nicht? sagte sie. Mal sehn. Vielleicht.
    Dünner, kalter Schnee begann zu fallen. Wir blieben länger da stehen, als wir etwas zu sagen wußten, und wenn ich malen könnte, würde ich jene lange Mauer hierhersetzen und uns beide, sehr klein, an sie gelehnt, und hinter uns die große, neue viereckige Hermann-Göring-Schule, roter Stein, leicht verschleiert von dem sacht fallenden Schnee. Das kalte Licht würde ich nicht beschreiben müssen, und die Beklemmung, die ich spürte, würde ohne weiteres von dem Bild ausgehen. Denn für jedermann sichtbar wäre der Himmel über uns glanzlos und leer, und das konnte, ob wir es wahrhaben wollten oder nicht, nie ohne Folgen bleiben. Auch würde man ahnen, daß man sich schnell verlieren kann unter solchem Himmel, in diesem Licht. Und daß uns kurz bevorstand, uns verlorenzugehen: einander und jeder sich selbst. So daß man ungerührt »ich« sagt zu einem Fremden, die Unbefangenheit bewahrt, bis zu einem Augenblick, da dieses fremde Ich zu mir zurückkehren und wieder in mich eingehen wird. Mit einem Schlag wird man befangen sein, das läßt sich voraussagen. Vielleicht ist man darauf aus und darauf angewiesen, diesen Augenblick zu wiederholen. Vielleicht hates Sinn, daß sie, Christa T., Krischan, noch einmal dabei ist.
    Es schneite stärker, Wind kam auf. Wir gingen auseinander. Ich schrieb ihr noch, denn ihr siebzehnter Geburtstag fiel in diese Ferien. Ich trug ihr unverhohlen meine Freundschaft an. Ich wartete auf nichts als auf ihre Antwort, während meine Stadt, die unverrückbar festzustehen hatte, sollte sie mir bleiben, was sie war, schon von den Wellen der Flüchtlinge und der Uniformierten, die auch flüchteten, hochgehoben wurde wie ein Schiff von der Flut und unaufhaltsam abtrieb. Ich sah das alles treiben und wußte nicht, was ich sah. Ich wartete auf einen Brief. Er kam nach Neujahr mit dem letzten Postauto aus dem Osten, und ich trug ihn dann lange mit mir herum, viele Kilometer, bis ich natürlich auch ihn verlor. Dieses Pfand hatte ich immerhin, obwohl er, genaugenommen, keine Versprechungen enthielt, keine Versicherung, nur ein paar vertraulichere Dankesworte und einen suchenden, tastenden Bericht über diesen jungen Lehrer. Ich habe ihn nie gesehen, auch ist er nicht wieder zwischen uns aufgetaucht, jetzt zweifle ich schon, daß es ihn gab. Damals aber hat mir Hoffnung gemacht, daß sie von ihm sprach.
    Den ganzen Januar über, während die Namen der Ortschaften immer bekannter wurden, die uns die Flüchtlinge von der Straße zuriefen, war mir die Hoffnung wirklicher als immer die gleichen Gesichter der Menschen, die vorbeizogen. Bis eines Tages eine müde Stimme aus dem Zug »Friedeberg« rief. Da war die Hoffnung mit einem Schlag überwunden. Ich gehörte zu diesen Leuten da. Ich probierte schon ihren Ausdruck, da hatten wir noch fünf Tage Zeit. Dann einen, danngar keinen Tag mehr. Dann war ich einer von ihnen und vergaß in wenigen Stunden, daß man mit Grauen und Mitleid aus festen Häusern auf Vorüberziehende blicken kann.
    Christa T. vergaß ich nicht. Es war mir leid um sie, wie einem um ein unwiederholbares, unerfülltes Versprechen leid ist. Darum gab ich sie mit einem einzigen schmerzhaften Ruck ganz und gar verloren, wie alles, was dahinten blieb. Dreh dich nicht um, dreh dich nicht um, wer sich umdreht
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