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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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ausschläft, sieht Gespenster oder hört welche.
    Blieb der Film am Nachmittag, »Die goldene Stadt«, nicht jugendfrei wie gewöhnlich. Da muß man die Sybille bitten, daß sie sich die Haare hochsteckt und Hackenschuhe von ihrer Mutter anzieht, daß sie sich ihre roten Lippen noch röter malt, damit sie zur Not aussieht wie achtzehn und wir alle hinter ihr an der Platzanweiserin vorbeikommen. Sie wollte gute Worte, wir gaben sie ihr, wir scharwenzelten um sie herum, aber auf Christa T., die Neue, die bei uns war, weil sie ebensogut bei uns sein konnte wie anderswo, auf sie achtete keiner.
    Da fing sie zu blasen an, oder zu rufen, es gibt das richtige Wort dafür nicht. Daran hab ich sie erinnert oder erinnern wollen in meinem letzten Brief, aber sie las keine Briefe mehr, sie starb. Lang ist sie ja immer gewesen, auch dünn, bis auf die letzten Jahre, nach den Kindern. So ging sie vor uns her, stakste erhobenen Hauptes auf der Rinnsteinkante entlang, hielt sich plötzlich eine zusammengedrehte Zeitung vor den Mund und stieß ihren Ruf aus: Hooohaahooo, so ungefähr. Sie blies ihre Trompete, und die Feldwebel und Unteroffiziere vom Wehrbezirkskommando hatten gerade Pause und sahen sich kopfschüttelnd nach ihr um. Na, dieaber auch, hat der Mensch Töne? Da siehst du nun, wie sie sein kann, sagte eine zu mir.
    Da sah ich’s nun. Grinste dazu wie alle, wußte aber, daß ich nicht grinsen sollte. Denn anders als alle erlebte ich diese Szene nicht zum erstenmal. Ich suchte, wann sie schon einmal so vor mir hergegangen sein konnte, und fand, daß es kein Vorbild für diesen Vorgang gab. Ich hatte es einfach gewußt. Nicht, daß ich mit der Trompete gerechnet hätte, da müßte ich lügen. Aber was man nicht weiß, kann man nicht sehen, das ist bekannt, und ich sah sie. Sehe sie bis heute, aber heute erst recht. Kann auch besser abschätzen, wie lange es dauert und was es kostet, dieses dümmliche Grinsen endlich aus dem Gesicht zu kriegen, kann lächeln über meine Ungeduld von damals. Nie, ach niemals wieder wollte ich so am Rand eines Stadtparks stehen, vor der eingezäunten Rehwiese, an einem sonnenlosen Tag, und den Ruf stieß ein anderer aus, der das alles wegwischte und für einen Sekundenbruchteil den Himmel anhob. Ich fühlte, wie er auf meine Schultern zurückfiel.
    Wie bringt man sie dazu, sich nach mir umzudrehen? Das war die Frage. Friedeberg. Ich interessierte mich ja für die Gegend um Friedeberg. Für ein Dorf mit Namen Eichholz. Für ein Dorfschullehrerhaus mit tief herabgezogenem bemoostem Dach ... Das alles kenne ich so wenig wie damals. Wenn wir Ausflüge machten, sind wir kaum über Beyersdorf und Altensorge hinausgekommen, oder zweimal die zwei Stunden Fahrt nach Berlin, Zoologischer Garten. Da stand das Schloß noch; dann ließen wir es lieber sein, so weit wegzufahren, wer hätte auch das Herz dazu gehabt, mitten im Krieg! Christa T. fuhr übrigens trotzdem, im Sommervierundvierzig, mit einer Freundin, auf die ich eifersüchtig war und die ihr abends im Musikzimmer ihrer verlassenen Berliner Wohnung Beethoven vorgespielt hat, bei Kerzenlicht, bis der Alarm kam. Da löschten sie die Kerzen und stellten sich ans Fenster. Nein, man konnte ihre Art nicht billigen, es drauf ankommen zu lassen, auf ein Unglück, auf einen Tod, auf eine Freundschaft. Und das Schloß konnte sie zu jener Zeit sowieso nicht mehr sehen, die Ruine vielleicht noch, das grüne Kupferdach. Mehr habe ich allerdings auch nicht davon im Gedächtnis.
    Ich gebe nicht vor, mich zu erinnern, was sie mir damals erzählt haben mag. Bloß daß die Wälder in der Friedeberger Gegend dunkler sein müssen als anderswo und daß es mehr Vögel gab, offenbar. Oder daß es mehr werden, wenn man jeden einzelnen mit Namen kennt, was weiß ich. Das wäre aber auch alles.
    Was sie mich wissen ließ, auf ausdrückliches Befragen, ich habe es vergessen. Nach ihrem Tod erst hat sie Antwort gegeben, wider Erwarten gründlich haben mich ihre Papiere belehrt, über die Gewißheiten und Ungewißheiten ihrer Kindheit. Auch darüber, daß es nicht schaden kann, bestimmter Erscheinungen, der wichtigsten vielleicht, als Kind ein für allemal gewiß zu werden. So daß, wenn man aus diesem Land weggeht, siebzehnjährig zum Beispiel, vieles schon gesehen ist, und für immer. Womit man ja rechnen muß, wenn man nur noch einmal so lange zu leben hat.
    Nichts davon damals zu mir.
    Immerhin, sie ließ mich einiges wissen. Sie erteilte Auskünfte, jedermann konnte
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