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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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erkennen könnte, auch wenn er es wollte. Aber wie soll der noch wollen können? Wie soll der sich noch nach Krischan umdrehen, Krischan in ihren kurzen Hosen und der Windbluse, Krischan als einziges Mädchen in der Jungenshorde, Krischan, den anderen Langhaarigen stolz entgegentretend: Mäkens spellen nich mit! Krischan bei den Todessprüngen vom Dachfirst auf das Faß, Krischan als alter Türke auf dem Kostümfest, Krischan, die mit auf Treibjagd geht, die mit ihrem Ewigtrampler mitten im Dorf in den Filmstab von »Das war mein Leben« rollt – rollt und rollt, denn sie kann nicht bremsen. Platzt in die Szene, da der Raddatz für Hansi Knotek mit einem gezielten Wurf einen Apfel vom Baum zu holen hat, und den Jungen, der mit einer Mütze voll Äpfel in der Krone sitzt, den sieht man nicht; es war aber Jochen, der junge Herr Leutnant, Ritterkreuzträger Jochen, und er fiel vor Lachen vom Baum.
    Sternkind. Was ja nicht heißen muß: Glückskind, Sonntagskind. Nicht jeder Stern strahlt hell und beständig. Von schwierigen Sternen hat man gehört, von wechselndem Licht, schwindend, wiederkehrend, nicht immer sichtbar. Worauf es auch nicht ankommt. Und worauf käme es an?
    Mit den letzten Fahrzeugen, im engen Fahrerhäuschen eines Munitionsautos, fuhr sie im Januar fünfundvierzig nach Westen. Schlimmer als die wirklichen Ereignissewar, daß nichts, nicht einmal das Grauen selbst, einen noch überraschen konnte. Unter dieser Sonne nichts Neues mehr, nur das Ende, solange es dauert. Dazu die Gewißheit: so mußte es kommen. So muß ein Dorfgasthof aussehen, wenn die Menschheit sich verschworen hat, aus unwissender Angst in ihm zusammenzuströmen. Blasse Frauen, übermüdete Kinder und Soldaten bei ihrem Alltagsgeschäft der Flucht. Die Müdigkeit, die nicht nur von sechs durchwachten Nächten kommt; was das wichtigste war, fällt einem aus der Hand, man bemerkt es nicht. Hockt sich auf den Boden; glücklich, wer ein Stück Wand hat, an das er sich lehnen kann. Christa T., um die Verzweiflung abzuwehren, zieht ein Kind auf ihren Schoß. Da beginnt das Radio über ihr zu dröhnen: Noch einmal, auch in der Hölle noch, diese fanatische, sich überschlagende Stimme, Treue, Treue dem Führer bis in den Tod. Sie aber, Christa T., noch ehe sie den Mann verstanden hat, fühlt sich kalt werden. Ihr Körper hat, wie auch sonst, eher begriffen als ihr Kopf, dem nun allerdings die schwere Aufgabe des Nacharbeitens bleibt, den Schreck aufzuarbeiten, der ihr in den Gliedern sitzt: Das ist es also gewesen, und so hat es enden müssen. Die hier sitzen, sind Verfluchte, und ich mit ihnen. Nur daß ich nicht mehr aufstehen kann, wenn das Lied nun kommt: Da ist es. Ich bleibe sitzen. Ich drücke das Kind fest an mich. Wie heißt du? Anneliese, ein schöner Name. Über alles in der Welt ... Ich hebe den Arm nicht mehr. Ich habe das Kind, kleiner, warmer Atem. Ich singe nicht mehr mit. Wie die Mädchen singen, die auf der Theke gesessen, wie sogar die Soldaten, die rauchend und fluchend an den Wänden gelehnt haben, noch einmal gestrafftstehen, geradegerückt durch das Lied, o eure geraden Rücken, wie sollen wir wieder hochkommen?
    Fertigmachen, rief der Beifahrer, sie hatten ihren Wagen wieder flott, Christa T. sprang auf und quetschte sich neben ihn, da fing die Nacht erst an, der Schneesturm auch. Schon vor dem übernächsten Dorf bleiben sie stecken, da half kein Schaufeln, Hilfe mußte herbei; Sie, Fräulein, bleiben am besten hier sitzen. Sie sagte nichts, alles, was ihr zustieß, war zu genau eingepaßt in den Alptraum. Nun war sie wohl für immer in die andere Welt geraten, die dunkle, die ihr ja seit je nicht unbekannt war – woher sonst ihr Hang, zu dichten, dicht zu machen die schöne, helle, feste Welt, die ihr Teil sein sollte? Die Hände, beide Hände auf die Risse pressen, durch die es doch immer wieder einströmt, kalt und dunkel ...
    Wie bin ich zu bedauern, ich armes, armes Kind, sitz hinter festen Mauern, und draußen geht der Wind ... Zehn Jahre alt, ausgeschlossen aus der Gesellschaft der anderen wegen Ungezogenheit, da ist das Büchlein, mit Blümchenseide bezogen. Da ist der Trost entdeckt: in den geschriebenen Zeilen. Das Staunen vergißt man nicht mehr, auch nicht die Erleichterung.
    Nachts wird sie wach, da sind der Pächter und seine Frau immer noch da, nun haben sie getrunken, und das Grammophon spielt. Ich tanze mit dir in den Himmel hinein. Sie tanzen auch, hinter der Glastür bewegen sich ihre Schatten,
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