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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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fragte Murphy schließlich.
    »Wen?«
    »Jean-Paul Sartre. Franzmann. Denker. Was von ihm gelesen?« Ein Stück glühender Asche fiel in Murphys Schoß und brannte ein Loch in den Stoff der Hose. Murphy bemerkte es nicht.
    Wilbur unterdrückte ein Lachen. Neben ihm saß ein ganzkörpertätowierter, bekiffter Gläserwäscher, der sein armseliges Auto und sein offensichtlich noch armseligeres Leben in die Hände eines ihm völlig fremden, ebenso offensichtlich irren, miserabel fahrenden Säufers legte und im Begriff war, ein von Drogen erhelltes Gespräch über den bedeutendsten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts anzuleiern. Er schüttelte den Kopf. »Hatte nie die Gelegenheit dazu.« Er hatte Der Ekel und Die Wörter für die Bibliothek in Four Towers vorgeschlagen, aber sein Antrag war von den Hütern der geistigen Werte abgelehnt worden. An die Besserungsanstalt zu denken, versetzte Wilbur einen Stich. Mit einem Schlag war er wieder betrübt, Säure schwappte in seinem Magen. Bei der nächsten Gelegenheit würde er Conor einen Brief schreiben.
    »Ich habe mich mit seinem Werk im Gefängnis vertraut gemacht«, sagte Murphy, eine Formulierung, die Wilbur ein kleines bisschen aufheiterte. »Nicht zu empfehlen.« Mit dem Daumen zerdrückte er dasStückchen Glut, das vom Joint übriggeblieben war, auf dem Armaturenbrett. »Sartre im Gefängnis lesen, meine ich. Zu deprimierend.«
    Wilburs Augen brannten. Der Gedanke, Roscoe Murphy könnte ein Mörder sein, beschäftigte ihn erstaunlicherweise weniger als die Frage, wie man die Heizung ausmachte.
    »Willst du nicht wissen, warum ich gesessen habe?« fragte Murphy. Er zwängte seinen Oberkörper in die Lücke zwischen den Rückenlehnen und streckte die Hand nach der Whiskeyflasche aus.
    »Doch«, sagte Wilbur pflichtschuldig. In Gedanken ging er das Lösen des Sicherheitsgurtes und das Öffnen der Tür durch. Weil er sich den Sturz auf die Straße sehr schmerzhaft vorstellte, fuhr er noch ein wenig langsamer.
    »Verdammt!« Murphy drehte sich um und kurbelte das Fenster herunter. Dann versuchte er, das Handschuhfach zu öffnen, aber es klemmte. »Verdammt!« Er hämmerte mit der Faust dagegen. »Verfluchte Scheiße!«
    Wilbur wollte fragen, was los sei, als die Sirene aufheulte.
    »Fahr los!« rief Murphy und trat mit dem Fuß gegen das Handschuhfach. Wilbur hielt an. Die Sirene verstummte. Zuckendes Licht drang durch den Qualm, der sich ein wenig verzog. »Mach schon, fahr los!« Murphy schrie so laut, dass Wilbur nicht verstand, wozu die Megafonstimme ihn aufforderte.
    Im Rückspiegel sah Wilbur, wie ein Beamter aus dem Polizeifahrzeug stieg.
    »Worauf wartest du, verflucht noch mal?« brüllte Murphy.
    Wilbur legte beide Hände gut sichtbar auf das Lenkrad, eine Verhaltensregel, die er aus dem Fahrunterricht und Polizeivideos im Fernsehen kannte. Murphy warf sich über seine Beine und drückte mit beiden Händen Wilburs Fuß auf das Gaspedal. Die Reifen drehten durch, der Motor röhrte, dann schoss der Wagen schlingernd los, rammte einen geparkten Lieferwagen und raste die Straße hinunter, über eine Kreuzung und auf die roten Tupfer zu, die Rücklichter weit vorne in den Regen klecksten. Murphy griff nach dem Lenkrad, und sie gerieten auf die leere Gegenfahrbahn, flogen an verwischten Lichtern und jaulenden Hupen vorbei über die Kreuzung und hinein in einen Tunnel aus schwarzen,gekrümmten Häusern, geparkten Autos und dem Regen, der vor ihnen zerstob wie ein Schwarm aus winzigen gelben Fischen.
    Als Wilbur das Steuer herumriss und mit dem freien Fuß auf die Bremse trat, prallte das Auto zur Seite kippend gegen die Bordsteinkante, landete auf dem Dach und schlitterte zurück auf die Straße, wo es, begleitet von Scheppern und Klirren und dem Schrei, der endlich aus der Tiefe von Wilburs erstarrtem Körper stieg, gegen den Mast einer Straßenlampe krachte, eine letzte knirschende Pirouette vollführte und dann liegenblieb.
    Wilbur machte die Augen auf. Kalte Luft wehte durch die Öffnung, wo einmal die Windschutzscheibe gewesen war. Er befreite sich mit zitternden Händen aus dem Sicherheitsgurt, drehte sich um und kroch auf die nasse Straße. Taumelnd ging er um das Wrack und sah nach Murphy, der bewusstlos dalag, gekrümmt und dunkel verfärbt wie ein kranker Fötus. Wilbur ging auf die Knie, zerrte Murphy durch das geborstene Fenster ins Freie und suchte in seinen Jackentaschen nach dem Führerschein, fand aber nur einen Kugelschreiber, leere Zettel und ein
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