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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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er jeden Moment den Geist aufgeben, sein Zittern floss durch das Metall und ließ Wilburs Sitz vibrieren. Als Regentropfen auf das Dach schlugen, zog Wilbur den Kopf ein. Er versuchte sich zu erinnern, wie viel Platz bis zur nächsten Mauer war, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam an.
    »Licht.«
    »Was?«
    »Du solltest das Licht einschalten«, sagte Murphy ruhig. Er befeuchtete den Leimstreifen mit der Zungenspitze, rollte den Joint und strich ihn zwischen den Fingern glatt. Dann zündete er die Spitze an und inhalierte mit einem heiseren Seufzer, legte den Kopf zurück und schloss die Augen.
    Wilbur hielt an und suchte nach dem Schalter. Schließlich fand er ihn und steuerte den Wagen vorsichtig vom Hof auf die leere Seitenstraße. Die Scheinwerfer beleuchteten ein Plakat an einer Hauswand, auf dem schöne junge Frauen und Männer in Badesachen an einem Strand Volleyball spielten und Bier tranken. Wilbur fragte sich, warum er nicht irgendwo mit Freunden im Sand herumtollen und in vernünftigen Mengen Alkohol zu sich nehmen konnte, statt sich alleine in einer Kneipe in der Bronx besinnungslos zu saufen. Er dachte an das Surfbrett, das er von Harold geschenkt bekommen und Wochen später verkauft hatte. Er stellte sich vor, wie er durch den glasgrünen Tunnel einer sich brechenden Welle ritt, bronzefarben und furchtlos.
    »Links.«
    Wilbur kam aus dem Tunnel. Sonnenlicht fing sich in der Bierflasche auf dem Plakat. »Was?«
    »Du musst nach links«, sagte Murphy. »Das ist eine Einbahnstraße.« Wilbur setzte den Blinker. Murphy kicherte und hustete.
    »Und jetzt?« fragte Wilbur, als sie an eine Kreuzung kamen. Er schalteteden Scheibenwischer an und lehnte sich nach vorne, um besser sehen zu können.
    »Egal. Lass uns rumgondeln.«
    Wilbur wollte widersprechen, fuhr dann aber einfach los. Das Blei in seinem Kopf kühlte aus und verfestigte sich, der dumpfe Schmerz klang ab. Die Straße war schwarz und breit und so gut wie leer. Das Hin und Her der Wischblätter hatte etwas Beruhigendes. Wilbur entspannte sich ein wenig. Für Sekunden schwebte sein Bewusstsein als Hubschrauber über dem Geschehen und zeigte ihm, wie der von ihm gelenkte Wagen im unwirklichen Licht der Stadt dahinglitt, eine mit Haschischrauch gefüllte Metallkapsel im trägen Strom der Nacht.
    »Warum hast du gesagt, du heißt Elwood?« Murphy rutschte in seinem Sitz nach unten und streckte die Beine aus. Er hielt Wilbur den Joint hin, aber der schüttelte den Kopf.
    »Es war mir peinlich, dass ich gekotzt habe.« Hinter ihnen hupte jemand, und Wilbur bremste erschrocken ab. Der Fahrer überholte und sah Wilbur ins Gesicht, seine Lippen formten sich zu einem obszönen Wort.
    »Und wozu schleppst du eine Kostümfestbrille und einen falschen Schnurrbart mit dir rum?«
    »Haben Sie meine Taschen durchsucht?« Wilbur wäre am liebsten rechts rangefahren, aber das hätte die Ausführung eines Manövers erfordert, über dessen einzelne Schritte er im Moment nicht nachdenken wollte.
    »Wir haben nach einer Brieftasche und einem Ausweis gesucht«, sagte Murphy. Er drehte den Kopf zu Wilbur. Rauch quoll aus seinem Mund und seinen Nasenlöchern. »Hast du ein krummes Ding gedreht? Mir kannst du’s sagen.«
    »Quatsch«, sagte Wilbur. »Ich wollte nicht erkannt werden, das ist alles.«
    »Wobei denn?«
    Wilbur schloss müde und genervt die Augen, öffnete sie aber gleich wieder, als ihm einfiel, dass er Auto fuhr. »Das ist eine persönliche Sache.« Er musste an einer roten Ampel anhalten und konzentrierte sich auf den Bremsvorgang wie auf eine Mondlandung. Als der Wagenwieder rollte, wurde er ruhiger. Die Gleichmäßigkeit der Scheibenwischerbewegungen erinnerte ihn an das Metronom, das ihm in Matthews Wohnzimmer den Takt vorgegeben hatte. »Ich wollte rausfinden, ob meine Freundin einen anderen hat.« Das war zwar nicht die Wahrheit, aber wenn er schon den Besitz der Sachen aus dem Scherzartikelladen rechtfertigen sollte, dann wenigstens mit einer Geschichte, in der er eine Freundin hatte. Eine Freundin, die ihn betrog und Dinge tun ließ, wie er sie nur aus Büchern und Filmen kannte.
    »Und? Hat sie?« fragte Murphy.
    Wilbur hupte, weil ein Mann weit vor ihnen die Straße überquerte. Der Mann zeigte ihm den Finger. Murphy kicherte.
    »Ja«, sagte Wilbur.
    Murphy schwieg eine Weile und füllte seine Lungen mit THC-gesättigtem Qualm. Was er wieder ausstieß, war gerade genug, um Wilburs Angst vor dem Fahren zu betäuben.
    »Kennst du Sartre?«
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