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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Lärmempfindlichkeit habe etwas mit der Hautfarbe zu tun, verwarf diese absurde Theorie jedoch gleich wieder und sah sich verstohlen um, ob jemand seine Gedanken gelesen hatte. Elwood wippte vor und zurück, ein Schilfhalm in der Brandung der Musik. Jetzt wurde Wilbur klar, warum der alte Mann ihn nie beim ersten Mal verstand.
    Vorne war die Frau in den weißen Leggins auf die Knie gesunkenund warf flehend die Arme hoch. Sie weinte, ihr dicker Leib wogte im Rausch ihrer Gläubigkeit, der Trance ihrer Hingabe. Niemand tröstete sie, weil sie keinen Trost brauchte in ihrem Traum von Erlösung. Sie schien zu schweben, ein Speichelfaden war das einzige, das sie mit der Welt verband. Wilbur betrachtete sie mit einem Gefühl aus Abneigung, Mitleid und Neid.
    Als der Prediger abermals hinter die Kanzel trat, nahm Wilbur es mit der Gelassenheit eines entkräfteten Wanderers hin, der delirierend im Treibsand versinkt. Sein Körper sirrte, ein Bündel aus feinen Drähten, aufgeladen mit der elektrisch verstärkten Frömmigkeit der anderen. Er saß da und nahm mit nüchterner Geduld das Scheitern seiner Flucht durch Meditation hin und ertrug die Grimassen der Kinder im Rücken der grünen Frau. Er wehrte sich nicht mehr. Er war ein rohes, nach außen gestülptes Innenohr. Sein Kopf, tonnenschwer, schwebte im Raum, stieg über den erhitzten Lautsprechern empor, drehte eine Runde über dem Wald des Chors und senkte sich auf die Tasten des Synthesizers, rollte von Schwarz zu Weiß. Bei den ersten Klängen eines neuen Liedes sprang Wilbur auf und gab sich torkelnd dem Ereignis hin, illusionslos auf religiöse Erleuchtung, zumindest rettende Ohnmacht hoffend.
    Warum konnte der Geist, der offenkundig in diesem ehemaligen Schuh- oder Eisenwarenladen, dieser umfunktionierten Imbissbude, diesem zur Kirche gewordenen Gemüseladen wohnte, nicht auf ihn überspringen? Was unterschied Wilbur Sandberg, abgesehen von äußeren Merkmalen, von den Menschen um ihn herum, die mit aufgewühltem Herzen die Welt umarmten und von ihr umarmt wurden? Was musste er tun, um von diesem Taumel hinweggeschwemmt zu werden? Welche inneren Schranken galt es niederzureißen, welche verborgenen Türen aufzustoßen, um Elwoods Grad der Ekstase zu erreichen? Wenn es Gott gab, warum legte er in Wilburs argwöhnischem Hirn keinen Schalter um und okkupierte seine Seele?
    Wilbur zitterte, legte die gefalteten Hände auf die Vorderlehne, wo sie nicht von Kinderköpfen besetzt war, und imitierte ein Gebet. Jetzt brach die Musik tosend über ihn herein. Er schnappte nach Luft. Seine Handflächen brannten. Die Worte des Predigers trafen ihn wie glühende Schneebälle. Wilburs Uhr zeigte die Zeit einer anderen Welt, einesfernen, verlorenen Planeten. Er trieb im Ozean der Wahrheit und des Leidens, ein winziger Fisch, vom Schwarm getrennt. Ihr Ende war so brutal wie die Musik selbst, ihr Verklingen ein Orkan. Irgendwann wurde Wilburs Hand geschüttelt, Frauen umarmten ihn. Die Dame in Grün presste ihm ein Zeichen aus Schweiß auf die Brust. Der Prediger hieß ihn in der Gemeinde willkommen, sprach ihn selig. Eine Tür wurde geöffnet, Luft strömte herein. In der Stille des Nachmittags fiel Wilbur auf die Knie, seine Hände berührten den Asphalt, als wolle er ihn küssen. Die Helligkeit und Kälte ließen ihn weinen. Leroy brachte ihm Wasser, eine Frau bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Wilbur sah das Licht und schloss die Augen.
     
    Als Wilbur aufwachte, war es zehn Uhr montagmorgens. Er lag angezogen in seinem Bett im Hotel und wusste, dass er seinen Job verloren hatte. Ein feuchter Waschlappen klebte am Kopfkissen. Seine Ohren fühlten sich an, als steckten Finger darin. Er bewegte die Hände, hob sie vor das Gesicht, zählte. Das Aufstehen fiel ihm schwer, er hörte seine Gelenke knirschen. Im Badezimmerspiegel suchte er sein Gesicht nach Veränderungen ab, dann duschte er, bis das heiße Wasser aufgebraucht war und das kalte seinen Schädel versengte. Er zog frische Kleidung an, stopfte die schmutzige in einen Beutel und ging hinunter.
    Elwood saß in der Lobby, ein Sonntagsschmetterling, der sich in eine graue, faltige Alltagsraupe zurückverwandelt hatte. Er grüßte Wilbur, fragte nach dem Befinden. Wilbur, der Elwoods Stimme durch das Summen in seinem Kopf nur als Wispern wahrnahm, hob die Hand und verließ unter den missbilligenden, spöttischen und besorgten Blicken der alten Männer das Hotel.
    Nachdem er die Wäsche in die Hände einer mürrischen Chinesin
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