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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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gelegt hatte, fuhr er mit dem Bus zum Büro seines ehemaligen Arbeitgebers, ließ sich seine fristlose Entlassung bestätigen und einen Scheck für die vergangene Woche überreichen. Danach setzte er sich in ein Lokal, trank Kaffee und überflog die Stellenanzeigen mehrerer Zeitungen. Wie ihm ein falsch geschriebenes Wort auf einer Buchseite oder der Schatten eines Mikrofons in einer Filmszene nicht entging, so übersah er auch nicht seinen Namen, der, eingerahmt von winzigen schwarzenHerzen, in der Spalte Glückwünsche und Liebesgrüße verborgen lag. »Lieber Wilbur«, las er, »wir würden gerne Deinen 20. Geburtstag mit Dir feiern. Es gibt nichts, was Dir leid tun muss. Alice und Lennard.«
     
    Die ganze nächste Woche verbrachte Wilbur damit, dem Drang, sich zu betrinken, nicht nachzugeben. Er kaufte bei Freeman Antiquitäten ein Buch, las es, verkaufte es Winston für die Hälfte zurück und erwarb aus den unerschöpflichen Beständen ein anderes. Irgendwann fand Winston diesen Kreislauf zu albern und lieh Wilbur die Bücher für fünfzig Cent pro Stück aus. Wilbur fuhr lesend mit der Bahn bis nach Waterbury und Wassaic und Poughkeepsie, nach Port Jervis und Montauk und Greenport, stieg irgendwo aus, ging ein paar Stunden ziellos umher, las auf einer Gartenbank oder in einem Ausflugslokal weiter und fuhr am Abend zurück nach Brooklyn. Einmal verschlug es ihn nicht ganz zufällig nach Long Island, wo er über den Strand zum Haus ging und den Kindern der neuen Besitzer beim Spielen im Garten zusah. In einem Scherzartikelgeschäft kaufte er eine Brille mit Fensterglas und einen Schnurrbart und Koteletten zum Ankleben.
    Am nächsten Tag ging er zum Reformkostladen und beobachtete eine Weile, was für ein wundervolles Verkäufergespann Ernest Shelby und Jenna Hoffman abgaben. Dann stellte er sich in den Hauseingang gegenüber von Alices Geschäft, das sich Alice In Woolland nannte, aber bis zum Abend bediente nur Rebecca Shelby die Kundinnen, ohne dass Alice auftauchte.
    Als er beim Mietshaus in der Bronx ankam, war es dunkel. Er zählte die Stockwerke und sah zu den erleuchteten Fenstern hoch. Er fühlte sich lächerlich und schäbig in seiner Verkleidung. Die Haut über seiner Lippe juckte von dem Klebstoff, und die Bügel der schweren Brille verursachten wunde Stellen hinter den Ohren. Er hatte die Strickmütze tief in die Stirn gezogen und trug einen braunen Regenmantel, eine Leihgabe aus der Kleiderabteilung von Freeman Antiquitäten . Die Koteletten hatte er unter den irritierten Blicken der übrigen U-Bahn-Passagiere abgenommen und kratzte sich jetzt mit dem Fingernagel kleine Fetzen von der Wange wie nach einem Sonnenbrand. Ein kühler Wind bewegte die Flag ge an der Fassade, schnell ziehende Wolken spiegelten sich in eineralten Pfütze. Wilbur fröstelte und war hungrig. Er wartete, ohne genau zu wissen, worauf, sah dem wechselnden Muster der an- und ausgehenden Lichter in den Wohnungen zu, den Leuten, die das Haus betraten und ver ließen, und dem uniformierten Portier, der einem alten Paar die Tür aufhielt. Autos fuhren vorbei, ein Junge mit einem Modellflugzeug rannte über die Straße. Von einer Sekunde auf die andere fiel ein feiner Regen.
    Wilbur schlug gerade den Mantelkragen hoch und wollte gehen, da entdeckte er Alice auf der anderen Straßenseite. Sie schob einen Rollstuhl, in dem Lennard saß, daneben ging Nathalie, einen aufgespannten schwarzen Schirm über die beiden haltend. Um Lennards Hals war ein roter Schal gewickelt, über seine Knie eine Wolldecke gebreitet, auf der seine weißen Hände lagen. Alice sah in Wilburs Richtung, wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wilbur trat einen Schritt zurück, sein Herz raste. Er verscheuchte einen Hund, der an seinen Schuhen schnüffelte. Das Summen in seinem Kopf vermischte sich mit dem leisen Rauschen des Regens und dem Sirren der Reifen auf dem nassen Asphalt. Er wollte rufen und brachte nur ein Flüstern hervor, während die drei im Haus verschwanden. Als er über die Straße rannte, hupten Autos, ein Fahrradkurier beschimpfte ihn. Vor der großen Tür blieb Wilbur stehen. Er nahm die Anzeige hervor, die er aus der Zeitung gerissen hatte, und las sie, merkte, dass seine Hände zitterten. Es gibt nichts, was Dir leid tun muss.
    Wilbur ging die Straße hinunter und setzte sich in eine Bar. Dass er vergessen hatte, die Verkleidung abzulegen, merkte er erst, als der Barkeeper meinte, das sei ein ziemlich kläglicher Versuch, älter
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