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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut
Autoren: Andrew Kaufman
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einen Morgenmantel und war immer noch
blass, aber zum ersten Mal hatte sie das Gästezimmer verlassen.
    »Komm her, Schätzchen«, sagte sie.
    Rebecca kletterte aufs Sofa und kuschelte sich an. Zusammen schauten sie The Edge of Night . Alles fühlte sich normal an, und Rebecca wusste, es wäre nie so gekommen, hätte sie das Armband nicht in der Tasche. Denn ohne das Armband hätte sie viel zu viel Angst gehabt, ihre Mutter könnte das Ausmaß ihrer Angst erspüren.
    Nach dem Erfolg mit dem Plastikarmband stellte Rebecca weitere Experimente an. Als ihr beim Eislaufen der Axel misslang, bewahrte Rebecca die Schnürsenkel ihrer Schlittschuhe auf. Als ein Lehrer sie bei einer Prüfung durchfallen ließ, klaute sie seinen Kaffeebecher. Als Jenny Benders sie nicht zu ihrer Geburtstagsparty einlud, steckte Rebecca eine von Jennys Haarspangen ein. All diese Andenken bewahrte sie in einem Schuhkarton unter ihrem Bett auf. Schon bald benötigte sie einen zweiten Karton. Später einen dritten, vierten und fünften.
    Nach ihrem vierzehnten Geburtstag fing Rebecca an, auch jene Andenken zu sammeln, die sie an die guten Momente in ihrem Leben erinnerten. Indem sie auch ihre Freude für sich behielt, schützte sie sich vor Bloßstellung. Damit verschaffte sie sich eine Intimsphäre. Bald hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, für alle emotionsgeladenen Momente, die traurigen wie die fröhlichen, ein Souvenir zu behalten.
    Die Zahl der Kartons unter ihrem Bett wuchs und wuchs. Als Rebecca sechzehn wurde, standen die Schuhkartons dreifach übereinandergestapelt und berührten den Lattenrost. Als sie zu studieren anfing und von zu Hause auszog, nahm sie alle Schuhkartons mit; das neue Apartment hatte sie unter dem Gesichtspunkt der Abstellkammergröße ausgesucht. Als die Abstellkammer nicht mehr ausreichte, kündigte Rebecca ihrer
Mitbewohnerin, um das freigewordene Zimmer vollzustellen. Dann das Wohnzimmer. Und dann die Küche. Schließlich mietete sie bei E. Z. Self Storage an der Ecke von Queen und Broadview in Torontos Innenstadt den Lagerraum 207 an und schaffte alle Schuhkartons dorthin.

    »Wo ist Dad?«, fragte Rebecca.
    »Drinnen. Wo ist Lewis?«
    Rebecca antwortete mit einem Schuldgefühl, das ihre Mutter verwirrte. Rebecca fühlte sich schuldig, weil sie der Grund dafür gewesen war, dass Lisa Lewis überhaupt geheiratet hatte.
    Nach dem Schulabschluss waren Lisa und Lewis zusammen nach Halifax gezogen, um am Nova Scotia College Kunst und Design zu studieren. Lewis hielt Lisa immer noch für nicht mehr als eine gute Freundin - die Wohnung, die sie mieteten, hatte zwei Schlafzimmer. Rebecca hasste Lewis, aber noch mehr hasste sie es zu wissen, dass ihre Schwester niemals glücklich werden würde.
    Während der Weihnachtsferien fuhren beide Schwestern nach Hause, und an Heiligabend schickte die Mutter sie in die Stadt, um Geschenkpapier zu kaufen. Der Auftrag war schnell erledigt. Weil sie noch Zeit hatten und das mit Verwandten überfüllte Elternhaus meiden wollten, fuhren die Schwestern ein wenig durch die Gegend. Schließlich standen sie auf dem Parkplatz ihrer alten Schule.
    »Kannst du dich noch an die weiße Jeans erinnern, in der Phillip Wilson immer rumlief?«, fragte Rebecca.
    »Lewis betrachtet mich immer noch als eine gute Freundin. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
    Für eine Weile war es im Auto ganz still. Und dann war es ausnahmsweise Rebecca, der eine einfache Lösung einfiel. »Wo liegen die Schlafzimmer in eurem Apartment?«, fragte sie.

    »Gleich vorne.«
    »Nebeneinander?«
    »Ja.«
    »Und dazwischen eine Wand?«
    »Ja.«
    »Wie dick?«
    »Überhaupt nicht dick.« Lisa drehte sich auf dem Sitz um und starrte ihrer Schwester ins Gesicht. »Sie ist ziemlich dünn. Das kannst du nicht ernst meinen.«
    »Liebst du ihn wirklich?«
    »Das weißt du doch.«
    »Hat er dich verdient?«
    »Ich weiß, dass du es nicht so siehst, aber ich bin davon überzeugt.«
    »Tja, dann meine ich es ernst. Wahllos. Alle und jeden. Fang gleich am ersten Abend damit an, wenn es sich einrichten lässt.«
    Lisa befolgte den Rat ihrer großen Schwester. Die Wand war noch weniger schalldicht als vermutet. Lewis hielt drei Wochen durch. Neunzehn Monate später waren sie verheiratet. Rebeccas Plan war aufgegangen, und das würde sie sich niemals verzeihen.

    »Rebecca?«, wiederholte ihre Mutter.
    »Wir wurden beinahe in einen Unfall verwickelt. Danach ist er einfach verschwunden. Er ist gegangen. Er hat gesagt, es täte
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