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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut
Autoren: Andrew Kaufman
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Rebecca versuchte, sich an den genauen Moment zu erinnern,
an dem ihr Hass auf Lewis Taylor begonnen hatte. Es war der Moment des Kennenlernens gewesen.
    Rebecca war damals Studentin und auf einen unangekündigten Besuch nach Hause gefahren. Es war Nachmittag, und erwartungsgemäß war niemand zu Hause. Lisa ging noch zur Schule, ihre Eltern waren bei der Arbeit. Rebecca machte sich ein Sandwich und ging hinauf in ihr altes Mädchenzimmer, um zu lernen. Stunden später - sie war immer noch dabei, sich die relative Atommasse der Elemente einzuprägen - hörte sie plötzlich laute Musik.
    Rebecca klappte das Buch zu und ging nach unten. Die Musik wurde immer lauter, aber erst im Wohnzimmer merkte Rebecca, dass im Keller live gespielt wurde. Auf halber Höhe der Kellertreppe begriff Rebecca, dass ihre Schwester in einer Band spielte, genauer gesagt in einem Synthipop-Duo.
    Lisa spielte Keyboard, während ein Drumcomputer tickte und ein Junge, den Rebecca nicht kannte, ins Mikrofon sang. Seine Stimme klang furchtbar - dünn und weinerlich. Seine Frisur war modisch, seine Pose kalkuliert schlaff. Noch bevor sie die unterste Treppenstufe erreicht hatte, projizierte Rebecca ihre Abneigung in den Raum.
    Lisa und Lewis erschraken weniger über Rebeccas überraschendes Auftauchen als über die Feindseligkeit, die sie verstrahlte. Lewis schaltete das Mikrofon aus und legte es auf den Boden. Lisa ließ die Finger auf den Tasten liegen, so dass das Keyboard einen langgezogenen E-Dur-Akkord von sich gab.
    Als sie im Keller stand, entdeckte Rebecca einen weiteren Grund, Lewis nicht zu mögen. Er war sich der Tatsache nicht bewusst, dass Lisa in ihn verliebt war. Rebecca hatte es sofort an der Hüfststellung ihrer Schwester bemerkt, und wie sie ihn immer wieder ansah und dabei mit den Augen lächelte.
    »Äh, das ist meine Schwester«, sagte Lisa schließlich und
nahm die Hände vom Keyboard. Der Drumcomputer tickte weiter. »Rebecca, das ist Lewis.«
    »Schön, dich kennenzulernen, Rebecca.«
    Rebecca antwortete ohne Worte.
    »Machen wir Schluss für heute?«, fragte Lisa, aber da hatte Lewis seine Tasche schon in der Hand. »Bis dann«, sagte er und starrte auf seine Schuhe.

    Als Rebecca merkte, dass sie nicht mehr fuhren, hielt ihr der Fahrer längst die Tür auf. Sie schaute auf ihre Uhr: 13.35. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und schloss die Liste mit dem überzeugendsten aller Gründe ab, warum sie Lewis Taylor hasste: Er hatte nicht auf ihre Schwester aufgepasst.
    Im Kirchenfoyer entdeckte Rebecca ihre Mutter, die von zwei Onkeln und einer Tante belagert wurde. Rebecca verschränkte die Hände hinter dem Rücken und lungerte am Rand des Grüppchens herum. Weil sie sich verzweifelt nach einer Zigarette sehnte, kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Nikotinkaugummi - eine vorübergehende Notlösung, auf die sie seit zwei Jahren zurückgriff. Sie schaute in die Tasche, fand die Schachtel auf Anhieb und drückte ein Kaugummi aus der Blisterpackung. Das Knistern hallte durchs Foyer und wirkte unpassend, aber Rebecca hörte nicht auf. Nicht einmal, als ihre beiden Onkel die Glatzköpfe in ihre Richtung drehten.
    Rebecca bemerkte, dass sich der Slip ihrer Mutter unter dem Kleid abzeichnete. Sie bahnte sich einen Weg und nahm ihre Mutter bei der Hand. Sie wollte sich nicht anlehnen, sondern Halt geben, aber sobald die Mutter Rebeccas Sorge gespürt hatte, drückte sie Rebeccas Hand und augenblicklich fühlte Rebecca sich besser.
    Kurz nach ihrem siebten Geburtstag stand Rebecca auf dem Rasen des Nachbarn. Sie hielt Lisas Hand, und beide Mädchen
schauten zu, wie ein Sanitäter ihre Mutter durch den Vorgarten schob. Sie hatten sie seit sieben Monaten nicht gesehen. Ihre Mutter hopste im Rollstuhl auf und nieder, als die Räder über die Risse im Weg rollten. Ihre Arme lagen auf einer orangefarbenen Decke, ihre Haut war bleich. Rebecca wollte winken, aber sie hatte Angst, die Mutter könnte die Geste nicht erwidern. Die Sanitäter trugen ihre Mutter die Treppe hoch und durch die Tür, die der Vater offen hielt.
    »Da ist sie«, sagte Rebecca zu Lisa.
    Sie führte Lisa hinters Haus. Die beiden Mädchen setzten sich hin und starrten zum Fenster im ersten Stock hinauf, hinter dem ihre Mutter, sie wussten es, jetzt schlief. Lisa rupfte eine Handvoll Gras aus. Sie ließ das Gras wieder fallen. Sie sah Rebecca an. Dann sagte sie:
    »Ich habe auch Angst.«
    »Wenn es ihr nicht besser ginge, dürfte sie nicht nach Hause«, sagte Rebecca. Sie
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