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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut
Autoren: Andrew Kaufman
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ihm leid.« Rebecca hob den Kopf und versuchte zu lächeln. »Sollen wir reingehen?«
    »Okay.«
    Als sie an der Hand ihrer Mutter die Kirche betrat, entdeckte Rebecca ihren Vater in der ersten Reihe. Während sie sich ihm näherten, beschlich sie ein seltsames Gefühl. Es wurde mit
jedem Schritt stärker. Und als sie sich auf den freien Platz neben ihrem Vater setzte, begriff Rebecca, dass es kein seltsames Gefühl war. Es war gar kein Gefühl.

Drei
    Vier Quadratmeter Segeltuch
    Eintausendachthundertundvier Kilometer westlich von Lisas Beerdigung stand Stewart Findley auf der Treppe vor dem einzigen Postamt in Morris in der Provinz Manitoba und wartete. Im übertragenen Sinn wartete Stewart auf so manches, aber in diesem konkreten Moment wartete er auf seine Chefin Margaret, die sich inzwischen schon um siebenundvierzig Minuten verspätet hatte.
    Stewart zog sein Handy aus der Tasche, um zu überprüfen, ob er einen Anruf verpasst hatte, dann hüpfte er die Treppe hinunter auf den Gehsteig. Er schaute nach Süden, die Hauptstraße hinunter, konnte Margaret aber nicht entdecken. Er trat gegen den großen Würfel aus zusammengelegtem Segeltuch, der am Fuß der Treppe lag. Er drehte sich um und wartete weiter. Er wollte gerade wieder auf sein Handy schauen, als er Margarets Pick-up hörte.
    Der Wagen, rot, alt und nicht weniger apart als seine Besitzerin, kam in Sichtweite. Stewart sah Margaret hinter dem Lenkrad und versuchte wieder einmal, ihr Alter zu erraten. Margaret war seltsam - sie blinzelte selten, ihre Haut schimmerte manchmal grünlich, sie war sehr stark, sie besaß ein Hotel, in dem kaum Gäste übernachteten -, aber am seltsamsten fand Stewart ihre Alterslosigkeit. Seit dreieinhalb Jahren war er der einzige Angestellte des Prairie Embassy Hotels, aber es war ihm nie gelungen, Margarets Alter zu erraten. Seine höchste Schätzung
belief sich auf siebzig, die niedrigste auf siebenunddreißig Jahre. Beide Male war er überzeugt gewesen, endlich richtig zu liegen. Während Margaret vor dem Postamt einparkte, gab Stewart eine neue Schätzung ab; siebenundfünzig, weil sie heute so gestresst und ungepflegt aussah.
    Margaret ließ den Motor laufen, rutschte über den Sitz und stieg auf der Beifahrerseite aus. Sie küsste Stewart auf beide Wangen. »Die blöde Gemeinderatssitzung ist schiefgelaufen«, sagte sie. »Rate mal, was der Idiot gegen die Dürre unternehmen will?«
    »Welcher Idiot ist es diesmal?«
    »Der Bürgermeister. Seit vierundfünfzig Tagen verdorren die Pflanzen auf den Feldern, und auf welch glorreiche Idee kommt er? Er will Regenmacher anheuern. Zwei Regenmacher, Vater und Sohn. Ich habe ihm angeboten, sie kostenlos im Hotel unterzubringen.«
    Stewart interessierte sich grundsätzlich nicht für die Sitzungen des Gemeinderates von Morris, und heute waren sie ihm besonders egal. Mit einer weit ausholenden Geste zeigte er auf den Segeltuchhaufen auf dem Gehsteig. Jede Seite war ungefähr einen Meter lang. Margaret erkannte es sofort.
    »Ist es das?«
    »Ja.«
    »Dein Boot bekommt ein Segel!« Margaret knuffte ihn in den Arm. Die Wucht des Schlags brachte Stewart aus dem Gleichgewicht.
    Seit drei Jahren, sechs Monaten und einem Tag war Stewart der einzige Angestellte des Prairie Embassy Hotels. Während dieser Zeit, drei Wochen ausgenommen, hatte er an seinem Segelboot gearbeitet. Obwohl Margaret jeden einzelnen Konstruktionsschritt aus der Nähe verfolgt hatte, war es ihr nie in den Sinn gekommen, Stewart zu fragen, wozu er mitten in der
kanadischen Prärie ein Segelboot brauchte. Oder, genauer gesagt, an einer Biegung des Red River, der nur einmal im Jahr für wenige Tage schiffbar war, nach der Schneeschmelze im Frühling. Aber Margaret hatte es nicht nötig, neugierig zu sein. Zum einen respektierte sie die Privatsphäre ihrer Mitmenschen, zum anderen war sie viel zu schrullig; aber hauptsächlich lag es wohl daran, dass sie selbst Geheimnisse hatte.
    Stewart öffnete die Heckklappe. Margaret rückte ihr Halstuch zurecht, und dann packte jeder von ihnen ein Ende des Segels.
    »Das ist schwer«, sagte sie.
    Stewart nickte zustimmend. Das Gewicht machte ihn sprachlos. Mit Trippelschritten bewegten sie sich auf das Heck des Pick-up zu.
    »Eins, zwei, drei«, zählte Margaret. Bei »drei« wuchteten sie das Segel auf die Ladefläche. Der Pick-up wippte auf seinen Stoßdämpfern, und Schmutz bröckelte zu Boden. Stewart schloss die Heckklappe.
    »Sollen wir es festbinden?«, fragte
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