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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende
Autoren: Alden Bell
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einer vergangenen Epoche. Temple hat noch Menschen gekannt, die diese Dinge horteten für eine Zukunft, in der der Glanz der Schmuckökonomie wiederhergestellt sein würde. Sie sammelten sie in kleinen Schachteln, die in größeren Schachteln lagen, die ihrerseits in noch größeren Schachteln aufbewahrt wurden, und sie brüteten auf ihnen wie missgünstige Adelige.
    Aber eine Sache im Fenster hätte Temple doch gern in der Tasche, um gelegentlich mit den Fingern darüberzustreichen: einen Rubinanhänger in Form einer Träne, so wie ihre Insel. Er hat eine goldene Fassung und hängt an einer Kette, aber wenn er ihr gehören würde, würde sie die Metallteile wegreißen und nur den Stein behalten, um ihn in der Hand zu kneten.
    Noch in die Betrachtung des Schmuckstücks versunken, bemerkt sie plötzlich eine gespiegelte Bewegung in der Scheibe – eine Gestalt, die sich von hinten nähert.
    Ohne lang zu überlegen, reißt sie das Gurkhamesser aus der Scheide hoch über den Kopf und wirbelt herum, bereit zuzuschlagen.
    Da sieht sie die Gewehrmündung, die direkt auf ihr Gesicht zielt.
    Whoa, Mister. Sie senkt die Klinge. Fast hätt ich dich als Schabe zerstückelt. Was soll das, wieso schleichst du dich so an?
    Als er sie sprechen hört, lässt der Mann das Gewehr sinken.
    Ich dachte, du bist eine von ihnen. Du hast so lange dort gestanden und nichts gemacht.
    Man wird sich ja wohl noch was anschauen dürfen.
    Er blickt sich um. Gutaussehend, Anfang dreißig, schätzt sie, mit glattem, blondem Haar, das ihm in die Augen fällt. Er ist frisch rasiert und hat einen wachsamen Ausdruck, der sie an eine Katze oder einen Nager erinnert – ein Tier, das immer darauf gefasst ist wegzurennen.
    Hier ist es nicht sicher, sagt er zu Temple. Komm mit uns.
    Wer is wir, Goldjunge?
    Er steckt zwei Finger in den Mund und pfeift. Daraufhin eilt eine kleine Armee um Hausecken und aus kleinen Gassen, insgesamt vielleicht zwölf Männer, die sie umringen.
    Einer mit einer Brille nähert sich und fängt an, ihre Arme und ihren Hals zu begutachten.
    Bist du verletzt?, fragt er. Irgendwelche Bisse?
    Mir geht’s prima. Lass mich in Ruhe.
    Er umfasst ihren Kopf mit beiden Händen und mustert eindringlich ihre Pupillen. Dann wendet er sich an den Blonden.
    Anscheinend in Ordnung. Eine volle Untersuchung können wir machen, wenn wir zu Hause sind.
    Nur über meine Leiche, sagt sie.
    Komm mit. Der Blonde fixiert sie. Wir kümmern uns um dich. Keine Angst.
    Habt ihr Eis?
    Was?
    Habt ihr Eis für Getränke?
    Wir haben Tiefkühlschränke, ja.
    Okay, dann zeig mir den Weg, Mister.
    Sie führen sie durch die Wolkenkratzer der Innenstadt und schießen unterwegs zwei Schaben in den Kopf.
    Damit sie sich nicht zu stark vermehren, erklärt der Blonde, der Louis heißt.
    Louis schreitet voraus, die anderen folgen ihm einzeln und halten nach allen Richtungen Ausschau.
    Temple trottet nebenher, hält aber immer einen bestimmten Abstand zu den anderen. Vor allem ein Typ gefällt ihr überhaupt nicht. Er ist mager und hat eine ölige Mähne, die er sich mit einer Baseballmütze auf den Kopf drückt. Anscheinend bringt Temple ihn gewaltig ins Schleudern. Gespiegelt in den dunklen Ladenschaufenstern registriert sie seinen Blick, der schwer auf ihr lastet. Sie verlangsamt ihren Schritt und lässt sich ans Ende der Gruppe zurückfallen, um ihn loszuwerden, aber er macht es ihr einfach nach, und schließlich bilden sie zusammen den Schluss der Schlange.
    Ich heiße Abraham, sagt er zu ihr. Und wie heißt du?
    Sarah Mary.
    Sarah Mary und wie weiter?
    Sarah Mary Williams.
    Wie alt bist du, Sarah Mary?
    Siebenundzwanzig.
    Er mustert sie von oben bis unten, und seine Augen bleiben mit leisem Spott an allen Körperpartien hängen.
    Du bist keine siebenundzwanzig.
    Beweis es.
    Mein Bruder Moses meint, dass ich eine Intuition für Wahrheit und Lüge habe. Er sagt, ich rieche einen Lügner hundert Meter gegen den Wind. Das ist mein geheimes Talent. Du kannst mir nichts vormachen, Sarah Mary.
    Den Blick nach vorn gerichtet, mahlt sie mit den Zähnen und denkt an ein großes, von oben bis unten mit Eis gefülltes Glas Cola und einen biegsamen Strohhalm.
    Mal sehen, fährt er fort. Ich würde sagen, du bist sechzehn, höchstens siebzehn.
    Hab schon ein paar Jahre gelebt, wie viele, is nich so wichtig.
    Wo kommst du her, Sarah Mary?
    Südlich von hier.
    Siehst du, da merk ich gleich, dass du mir nicht die Wahrheit sagst. Südlich von hier gibt’s nämlich nichts. Das ist
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