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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende
Autoren: Alden Bell
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älter als die meisten hier.
    Wie viele Leute seid ihr?, fragt Temple.
    Insgesamt siebenhundertdreizehn, verteilt auf alle vier Viertel. Mit dir siebenhundertvierzehn.
    Viertel?
    Die vier Blöcke. Wir nennen sie Viertel.
    Sind das alle Kinder?
    Die meisten. Es ist schwer für die Menschen, hier Kinder zu bekommen. Wir haben einen Arzt, aber unsere medizinischen Einrichtungen sind begrenzt. Außerdem fällt es den Leuten einfach nicht leicht … optimistisch zu sein.
    Ach.
    Ruby schenkt ihr ein breites Lächeln, als wäre sie selbst die erste Botschafterin des Optimismus.
    Dein Hut gefällt mir, sagt sie. Sie meint Temples Panama. Solche Hüte haben wir hier nicht.
    Danke. Mir gefällt dein Nagellack.
    Wirklich? Willst du welchen? Die meisten Frauen hier machen sich nicht die Mühe, sich die Nägel zu bemalen, deswegen haben wir noch viel davon.
    Ruby bringt sie wieder ins Kaufhaus, in die Kosmetikabteilung, und zeigt ihr ein Regal voller staubiger Glasfläschchen mit hundert verschiedenen Tönen und Namen, die die Farben beschreiben. Temple entscheidet sich für eine Art Pink, das Zuckerwatte heißt, wie ihr Ruby erklärt. Sie hat zwar keine Ahnung, was Zuckerwatte ist, aber sie stellt sich Lutscher vor, die aus T-Shirts gemacht sind.
    Dann fährt Ruby mit Temple hinauf in den fünfzehnten Stock, wo Temples Zimmer ist, ein kleines Büro mit einer Matratze auf dem Boden, einem Tisch mit Lampe und einer künstlichen Pflanze.
    Das Bad ist ein Stück weiter vorn am Gang neben den Aufzügen, erklärt Ruby entschuldigend. Wir müssen es uns teilen.
    Danke, sagt Temple. Für die Cola und den Nagellack und das Essen und alles.
    Gern geschehen. Freut mich, dass du bei uns bist. Wir kümmern uns um dich, Sarah Mary.
    Temple schweigt. Sie versucht sich auszumalen, hier bei diesen Leuten zu bleiben, und sie stellt erstaunt fest, dass ihr die Idee nicht komplett gegen den Strich geht. Sie fragt sich, ob das vielleicht bedeutet, dass sie allmählich erwachsen wird.
    Ach, noch was, meint Ruby. Du kannst hier so ziemlich überall hingehen, aber Viertel vier solltest du besser meiden. Da halten sich die meisten Männer auf, die unverheirateten Männer, die draußen patroullieren und die dich heute mitgebracht haben. Es sind wirklich nette Kerle, zumindest die meisten, sehr rücksichtsvoll und ritterlich. Aber manchmal, wenn sie zu lange aufeinanderhocken, können sie ein bisschen grob werden. Ich möchte nur, dass du keinen falschen Eindruck von uns gewinnst, das ist alles. Wir sind eine freundliche Gemeinschaft.
    Dann verabschiedet sich Ruby, und Temple bleibt allein zurück. Draußen auf dem Gang sucht sie nach dem Bad. Das Gemeinschaftsbad lässt sie links liegen und betritt statt dessen den Einzelraum, der für Rollstuhlfahrer bestimmt ist. Sie legt ihr Gurkhamesser auf den Rand des Beckens, zieht sich ganz aus und wäscht sich gründlich mit dem Lappen und dem Handtuch von Ruby. Dann hält sie den Kopf ins Becken und lässt ihr Haar lange im Seifenwasser einweichen. Anschließend kämmt sie es aus und betrachtet sich lange im Spiegel.
    Blondes Haar, schmales Gesicht mit langen Wimpern um leuchtend blaue Augen. Sie könnte hübsch sein. Sie versucht, einen Ausdruck anzunehmen, wie sie ihn bei Mädchen beobachtet hat, mit Schmollmund, gesenktem Kinn und hochgezogenen Augenbrauen. Ihre kleinen Brüste machen nicht viel her, und ihr Hintern ist flach – aber aus Zeitschriften kennt sie Bilder glamouröser Frauen mit einer ähnlichen Figur, also geht sie davon aus, dass das schon in Ordnung ist.
    Sie schlüpft in den neuen Slip, den ihr Ruby besorgt hat. Er ist aus Baumwolle und hat ein Rosenmuster. Ruby hat ihr auch einen BH gegeben, aber den zieht sie nicht an.
    Wieder in ihrem Zimmer bemalt sie Finger- und Zehennägel in Zuckerwattepink; allerdings ist sie schlampig und ungeduldig, also bekleckert sie sich überall die Haut. Dann streckt sie sich aus, um den Lack trocknen zu lassen, und starrt durchs Fenster hinauf zum dunkler werdenden Himmel. Nach einiger Zeit springen die Lichter der Stadt an. Vermutlich sind einige von ihnen mit einer automatischen Schaltung verbunden. Doch hinter anderen verbergen sich richtige Menschen wie sie.
    Sie tritt ganz nah vors Fenster, bis ihr Atem die Scheibe beschlägt, und sagt Gute Nacht zu der sonnenbeschienenen Welt. Die durchdringende Schwere des Schlafs drückt auf sie nieder, und sie legt sich auf die Matratze. Mit gefalteten Händen flüstert sie ein Gebet und lauscht auf das leise Summen
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